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Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus

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Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.jpg
Nachdruck 2010
Buchdaten
Titel Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus
Autor Carl Schmitt
Erschienen 1923
Nachdruck, Duncker & Humblot, 2010, ISBN 3-428-08839-5

Zusammenfassung

Das Buch des Staatsrechtlers Carl Schmitt über Parlamentarismus und Demokratie, welches erstmals 1923 veröffentlicht wurde, ist bis heute die beste Analyse des parlamentarischen Systems. In seinem Werk geht Schmitt der Frage auf den Grund, warum es im 19. Jahrhundert zu der nicht zwangs­läufigen Verquickung von Demokratie und Parlamentarismus als vermeintliche "ultimum sapientiae" (lat. absolute Weisheit) gekommen ist.

Unter den Liberalen des 19. Jahrhunderts herrschte die Vorstellung, dass die unterschiedlich im Volk verteilten Vernunft­partikel im Parlament zusammen­treffen würden und sich dabei so in freier Konkurrenz zusammen­setzen würden, dass am Ende das beste Ergebnis herauskäme. Das ist für Schmitt ein Ausdruck von liberal-ökonomischen Prinzipien (Glaube an die Kraft des freien Marktes), welcher durch die Realität ad absurdum geführt werde.

Das Parlament sei nicht das Forum, in dem die absolute Wahrheit oder Vernunft gesucht wird, sondern vielmehr würden in ihm bereits festgelegte Positionen und kaum veränderbare Partikular­interessen aufeinander­prallen. Es käme nicht darauf an, in gemeinsamen Beratungen die beste Lösung für das Allgemein­wohl zu finden, sondern nur darauf, die eigenen Interessen und die seiner Klientel durchzusetzen, indem man die nötigen Mehrheiten organisiert und über die Minderheit herrscht.[1]

Einzelnachweise

  1. Christian Barzik: Carl Schmitt über den Parlamentarismus, die Bühne im Kampf der Meinungen, Blaue Narzisse am 6. April 2009


Text

Vorbemerkung

(über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie)
 
Die zweite Auflage (1926) dieser Abhandlung über die geistes­geschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus ist im wesentlichen unverändert geblieben. Dadurch soll nicht zum Ausdruck gebracht werden, daß sie sich über jede Diskussion erheben wollte. Eher besteht Grund zu einer in etwa gegenteiligen Besorgnis. Eine unbeirrt wissenschaftliche Erörterung, die sich jeder partei­politischen Ausnutzung entzieht und niemandem Propagandadienste tut, dürfte heute den meisten unpraktisch, weltfremd und anachronistisch vorkommen. Es ist also zu befürchten, daß eine sachliche Diskussion politischer Begriffe wenig Interesse und der Wunsch nach einer solchen Diskussion wenig Verständnis findet.
Vielleicht geht die Epoche der Diskussion überhaupt zu Ende. Die im Sommer 1923 erschienene erste Auflage dieser Abhandlung ist im Allgemeinen so aufgenommen worden, daß derartige pessimistische Vermutungen sich auch an diesem bescheidenen Fall zu bestätigen scheinen. Dennoch wäre es unrecht, die vereinzelten Beispiele sachlicher Kritik zu mißachten; insbesondere verlangt die eingehende und gedanken­reiche Besprechung eines so hervorragenden Juristen wie Richard Thoma (Archiv für Sozialwissenschaften, 1925, Bd. 53, S. 212ff.) eine ausführliche Erwiderung.
Die höchst phantastischen politischen Ziele allerdings, die Thoma am Schluß seiner Besprechung andeutungsweise bei mir vermutet, darf ich wohl mit Stillschweigen übergehen. Der sachliche, durch politische Kombinationen nicht beirrte Einwand geht dahin, daß ich die geistige Grundlage des Parlamentarismus in ganz veralteten Gedanken­gängen finde, weil ich Diskussion und Öffentlichkeit für die wesentlichen Prinzipien des Parlaments halte; [5|6] derartiges sei vielleicht vor einigen Generationen maßgebende Vorstellung gewesen, heute aber stände das Parlament längst auf einer ganz anderen Basis. Daß der Glaube an Öffentlichkeit und Diskussion heute als etwas Veraltetes erscheint, ist auch meine Befürchtung. Es fragt sich deshalb nur, welcher Art denn die neuen Argumentationen oder Überzeugungen sind, die dem Parlament seine neue geistige Grundlage geben. Natürlich ändern sich im Laufe der Entwicklung sowohl die Institutionen wie die Ideen der Menschen. Ich sehe aber nicht, worin der heutige Parlamentarismus, wenn die Prinzipien der Diskussion und der Öffentlichkeit wirklich entfallen, eine neue Grundlage finden könnte und weshalb die Wahrheit und Richtigkeit des Parlaments dann noch einleuchtend wären. Wie jede große Institution, so hat auch das Parlament besondere, eigentümliche Ideen zur Voraussetzung. Wer sie kennen lernen will, wird sich gezwungen sehn, auf Burke, Bentham, Guizot und J. St. Mill zurückzugehen und wird dann feststellen müssen, daß nach ihnen, ungefähr seit 1848, wohl zahlreiche praktische Erwägungen, nicht aber neue prinzipielle Argumente vorgebracht worden sind. Im letzten Jahrhundert hat man das freilich kaum bemerkt, weil der Parlamentarismus in engster Verbindung mit der vordringenden Demokratie gleichzeitig vordrang, ohne daß beides klar unterschieden wurde. Heute aber, nach dem gemeinsamen Siege, tritt der Gegensatz zutage und kann der Unterschied von liberal-parlamentarischen und massen­demokratischen Ideen nicht länger unbeachtet bleiben. Man wird sich also mit jenen, wie Thoma sich ausdrückt, "verschimmelten" Größen beschäftigen müssen, weil nur aus ihren Gedanken­gängen heraus das Spezifische des Parlamentarismus zu erkennen ist und nur bei ihnen das Parlament den Charakter einer eigenartig fundierten Institution erhält, die sowohl gegenüber den Konsequenzen [7] der unmittelbaren Demokratie, als gegenüber Bolschewismus und Fascismus eine geistige Überlegenheit wahren kann. Daß der heutige parlamentarische Betrieb das kleinere Übel ist, daß er immer noch besser sein wird als Bolschewismus und Diktatur, daß es unabsehbare Folgen haben würde wenn man ihn beseitigte, daß er "sozial-technisch" eine ganz praktische Sache ist, alles das sind interessante und zum Teil auch richtige Erwägungen. Aber es ist nicht die geistige Grundlage einer besonders gearteten Institution. Der Parlamentarismus besteht heute als Regierungs­methode und politisches System. Wie alles was besteht und erträglich funktioniert, ist er nützlich, nicht mehr und nicht weniger. Es läßt sich vieles dafür geltend machen, daß es so wie heute immer noch besser geht als bei unerprobten andern Methoden und daß ein Minimum von Ordnung, wie es heute doch tatsächlich vorhanden ist, durch leichtsinnige Experimente gefährdet würde. Derartige Überlegungen wird jeder verständige Mensch durchaus gelten lassen" Aber sie bewegen sich nicht in der Sphäre eines prinzipiellen Interesses. So anspruchslos wird doch wohl niemand sein, daß er mit einem "Was sonst?" eine geistige Grundlage oder eine moralische Wahrheit für erwiesen hielte.
Alle spezifisch parlamentarischen Einrichtungen und Normen erhalten erst durch Diskussion und Öffentlichkeit ihren Sinn. Das gilt insbesondere von dem verfassungs­mäßig heute offiziell noch anerkannten, wenn auch praktisch kaum noch geglaubten Grundsatz, daß der Abgeordnete von seinen Wählern und seiner Partei unabhängig ist; es gilt von den Vorschriften über Redefreiheit und Immunitäten der Abgeordneten, über die Öffentlichkeit der Parlaments­verhandlungen usw. Diese Einrichtungen werden unverständlich, wenn das Prinzip der öffentlichen Diskussion keinen Glauben mehr findet. Es ist nicht so, als könnte man einer Institution nachträglich beliebige andere Prinzipien unterschieben und wenn ihre bisherige Grundlage entfällt, irgendwelche Ersatzargumente einfügen. Wohl kann dieselbe Institution verschiedenen praktischen Zwecken dienen und deshalb verschiedene praktische Recht­fertigungen erfahren. Es gibt eine "Heterogonie der Zwecke", einen Bedeutungs­wandel der praktischen Gesichts­punkte und einen Funktions­wandel der praktischen Mittel, aber es gibt keine Hetero- [8] gonie der Prinzipien. Wenn wir z. B. mit Montesquieu annehmen, daß das Prinzip der Monarchie die "Ehre" ist, so läßt sich dieses Prinzip nicht einer demokratischen Republik unterschieben, ebensowenig wie sich auf dem Prinzip der öffentlichen Diskussion eine Monarchie fundieren läßt. Zwar scheint das Gefühl für die Besonderheit der Prinzipien zu schwinden und eine grenzenlose Unterschiebbarkeit für möglich gehalten zu werden. In der eingangs erwähnten Besprechung von Thoma ist das eigentlich der Grundgedanke aller Einwände, die er gegen meine Abhandlung erhebt. Aber leider verrät er keineswegs, welches denn die angeblich so zahlreichen, neuen Prinzipien des Parlamentarismus eigentlich sind. Er begnügt sich damit, in einem kurzen Hinweis von wenigen Worten "nur die Schriften und Reden von Max Weber, Hugo Preuß und Friedrich Naumann aus den Jahren 1917ff." zu erwähnen. Was bedeutete der Parlamentarismus für diese gegen das kaiserliche Regierungssystem ankämpfenden deutschen Liberalen und Demokraten? Im wesentlichen und höchsten ein Mittel der politischen Führerauslese, einen sicheren Weg, politischen Dilettantismus zu beseitigen und die Besten und Tüchtigsten zur politischen Führerschaft gelangen zu lassen. Ob das Parlament tatsächlich die Fähigkeit besitzt, eine politische Elite zu bilden, ist sehr zweifelhaft geworden. Heute wird man wohl nicht mehr so hoffnungsvoll über dieses Auslese-Instrument denken; viele werden derartige Hoffnungen schon als veraltet ansehn, und das Wort "Illusionen", das Thoma gegen Guizot braucht, könnte leicht auch jene deutschen Demokraten treffen. Was die zahlreichen Parlamente der verschiedenen europäischen und außer­europäischen Staaten an politischer Elite in hunderten von Ministern ununterbrochen hervorbringen, rechtfertigt keinen großen Optimismus. Aber noch schlimmer und für jene Hoffnungen fast vernichtend: in manchen Staaten hat es der Parlamentarismus schon dahin gebracht, daß sich alle öffentlichen Angelegenheiten in Beute- und Kompromiß&shy,objekte von Parteien und Gefolgschaften verwandeln und die Politik, weit davon entfernt, die Angelegenheit einer Elite zu sein, zu dem ziemlich verachteten Geschäft einer ziemlich verachteten Klasse von Menschen geworden ist.
Für eine prinzipielle Betrachtung ist das jedoch nicht ent- [9] scheidend. Wer glaubt, der Parlamentarismus garantiere die beste politische Führerauslese, hat diese Überzeugung heute allerdings meistens nicht mehr als ideellen Glauben, sondern als eine nach englischen Vorbildern konstruierte, auf dem Kontinent zu erprobende, praktisch-technische Hypothese, die man vernünftigerweise sofort aufgibt, wenn sie sich nicht bewährt. Doch kann sich seine Überzeugung auch mit dem Glauben an Diskussion und Öffentlichkeit verbinden und dann gehört sie zur prinzipiellen Argumentation des Parlamentarismus. Das Parlament ist jedenfalls nur solange "wahr", als die öffentliche Diskussion ernst genommen und durchgeführt wird. "Diskussion" hat hier aber einen besonderen Sinn und bedeutet nicht einfach Verhandeln. Wer alle möglichen Arten von Verhandeln und Verständigung als Parlamentarismus und alles andere als Diktatur oder Gewaltherrschaft bezeichnet - wie M. J. Bonn in seiner "Krisis der europäischen Demokratie" und auch R. Thoma in seiner oben genannten Besprechung -, umgeht die eigentliche Frage. Auf jedem Gesandtenkongreß, jedem Delegiertentag, in jeder Direktoren­sitzung wird verhandelt; ebenso wie zwischen den Kabinetten der absoluten Monarchen, zwischen ständischen Organisationen, zwischen Christen und Türken verhandelt wurde. Daraus ergibt sich noch nicht die Institution des modernen Parlaments. Man darf die Begriffe nicht auflösen und das Spezifische der Diskussion nicht außer acht lassen. Diskussion bedeutet einen Meinungs­austausch, der von dem Zweck beherrscht ist, den Gegner mit rationalen Argumenten von einer Wahrheit und Richtigkeit zu überzeugen oder sich von der Wahrheit und Richtigkeit überzeugen zu lassen. Gentz - hierin noch von dem Liberalen Burke belehrt - formuliert es treffend: das Charakteristische aller Repräsentativ­verfassungen (er meint das moderne Parlament zum Unterschied von ständischen Vertretungen) ist, daß die Gesetze aus einem Kampf der Meinungen (nicht aus einem Kampf der Interessen) hervorgehen. Zur Diskussion gehören gemeinsame Überzeugungen als Prämissen, Bereitwilligkeit, sich überzeugen zu lassen, Unabhängigkeit von parteimäßiger Bindung, Unbefangenheit von egoistischen Interessen. Heute werden die meisten eine solche Uninteressiertheit kaum für möglich halten. Aber auch [10] diese Skepsis gehört zur Krise des Parlamentarismus. Die eben erwähnten, offiziell noch geltenden Bestimmungen der parlamentarischen Verfassungen lassen deutlich erkennen, daß alle eigentümlich-parlamentarischen Einrichtungen diesen besonderen Begriff der Diskussion voraussetzen. Der überall wiederkehrende Satz zum Beispiel, daß jeder Abgeordnete Vertreter nicht einer Partei, sondern des ganzen Volkes und an keinerlei Anweisungen gebunden ist (auch die Weimarer Verfassung hat ihn in Artikel 21 aufgenommen), die typisch wiederkehrenden Garantien der Redefreiheit und die Vorschriften über die Öffentlichkeit der Sitzungen sind nur bei richtig verstandener Diskussion sinnvoll. Verhandlungen dagegen, bei denen es nicht darauf ankommt, die rationale Richtigkeit zu finden, sondern Interessen und Gewinn­chancen zu berechnen und durchzusetzen und das eigene Interesse nach Möglichkeit zur Geltung zu bringen, sind natürlich auch von mancherlei Reden und Erörterungen begleitet, aber nicht im prägnanten Sinne Diskussion. Zwei Kaufleute, die sich nach einem Konkurrenzkampf einigen, sprechen über die beider­seitigen wirtschaftlichen Möglichkeiten, jeder sucht selbstverständlich seinen Vorteil wahrzunehmen, und so kommen sie zu einem geschäftlichen Kompromiß. Die Öffentlichkeit ist bei dieser Art von Verhandlung ebenso unangebracht, wie sie bei einer wahren Diskussion vernünftig ist. Verhandlungen und Kompromisse hat es, wie gesagt, überall in der Weltgeschichte gegeben. Die Menschen wissen, daß es meistens vorteilhafter ist, sich zu vertragen als zu streiten und ein magerer Vergleich besser als ein fetter Prozeß. Das ist zweifellos richtig, aber nicht das Prinzip einer besonders gearteten Staats- oder Regierungs­form.
Die Lage des Parlamentarismus ist heute so kritisch, weil die Entwicklung der modernen Massen­demokratie die argumentierende öffentliche Diskussion zu einer leeren Formalität gemacht hat. Manche Normen des heutigen Parlamentsrechtes, vor allem die Vorschriften über die Unabhängigkeit der Abgeordneten und über die Öffentlichkeit der Sitzungen, wirken infolgedessen wie eine überflüssige Dekoration, unnütz und sogar peinlich, als hätte jemand die Heizkörper einer modernen Zentral­heizung mit roten Flammen angemalt, um die Illusion eines lodernden Feuers hervor- [11] zurufen. Die Parteien (die es nach dem Text der geschriebenen Verfassung offiziell gar nicht gibt) treten heute nicht mehr als diskutierende Meinungen, sondern als soziale oder wirtschaftliche Macht­gruppen einander gegenüber, berechnen die beiderseitigen Interessen und Macht­möglichkeiten und schließen auf dieser faktischen Grundlage Kompromisse und Koalitionen, Die Massen werden durch einen Propaganda-Apparat gewonnen, dessen größte Wirkungen auf einem Appell an nächst­liegende Interessen und Leidenschaften beruhen. Das Argument im eigentlichen Sinne, das für die echte Diskussion charakteristisch ist, verschwindet. An seine Stelle tritt in den Verhandlungen der Parteien die zielbewußte Berechnung der Interessen und Macht­chancen; in der Behandlung der Massen die plakatmäßig eindringliche Suggestion oder - wie Walter Lippmann in einem sehr klugen, aber zu sehr im Psychologischen verhafteten amerikanischen Buche, Public Opinion, London 1922, sagt - das "Symbol". Die Literatur zur Psychologie, Technik und Kritik der öffentlichen Meinung ist heute sehr groß. Man darf deshalb wohl als bekannt voraussetzen, daß es sich heute nicht mehr darum handelt, den Gegner von einer Richtigkeit oder Wahrheit zu überzeugen, sondern die Mehrheit zu gewinnen, um mit ihr zu herrschen. Was Cavour als den großen Unterschied zwischen Absolutismus und konstitutionellem Regime bezeichnete, daß der absolute Minister befiehlt, der konstitutionelle denjenigen, der gehorchen soll, überzeugt, muß heute seinen Sinn verlieren. [12]
Cavour sagt ausdrücklich: ich (als konstitutioneller Minister) überzeuge davon, daß ich recht habe, und nur in diesem Zusammenhang tut er den berühmten Ausspruch: "La plus mauvaise des Chambres est encore préférable à la meilleure des Antichambres." Heute erscheint das Parlament eher selbst als eine riesige Antichambre vor den Bureaus oder Ausschüssen unsichtbarer Machthaber. Heute wirkt es wie eine Satire, wenn man den Satz von Bentham zitiert: "Im Parlament treffen sich die Ideen, die Berührung der Ideen schlägt Funken und führt zur Evidenz." Wer erinnert sich noch der Zeit, da Prévost-Paradol gegenüber dem "persönlichen Regime" Napoleons III. den Wert des Parlamentarismus darin erblickte, daß dieser bei jeder Verschiebung der wirklichen Macht den wirklichen Inhaber der Macht zwinge, sofort offen hervorzutreten und die Regierung infolgedessen, in einer "wunderbaren" Übereinstimmung von Schein und Sein, immer die stärkste Macht bedeute? Wer glaubt noch an diese Art von Öffentlichkeit? Und an das Parlament als die große "Tribüne"?
Die Beweisgründe von Burke, Bentham, Guizot und J. St. Mill sind also heute veraltet. Auch die zahlreichen Definitionen des Parlamentarismus, die man heute noch in angelsächsischen und französischen Schriften findet und die in Deutschland anscheinend wenig bekannt sind, Definitionen, in denen der Parlamentarismus wesentlich als government by discussion erscheint, müßten danach als "verschimmelt" gelten. Gut. Wenn man dann immer noch an den Parlamentarismus glaubt, wird man wenigstens neue Argumente angeben müssen. Ein Hinweis auf Friedrich Naumann[wp], Hugo Preuß[wp] und Max Weber[wp] genügt dann nicht mehr. Bei allem Respekt vor diesen Männern wird heute niemand ihre Hoffnung teilen, durch das Parlament sei die Bildung einer politischen Elite ohne weiteres garantiert. Solche Überzeugungen sind heute tatsächlich erschüttert und als ideeller Glaube können sie nur bestehen, solange sie sich mit dem Glauben an Diskussion und Öffentlichkeit verbinden. Was in den letzten Jahrzehnten an neuen Rechtfertigungen für den Parlamentarismus vorgebracht worden ist, besagt schließlich immer nur, daß heutzutage das Parlament als brauchbares, sogar unentbehrliches Instrument sozialer und politischer Technik gut oder wenigstens leidlich funktioniert. Das [13] ist, um es nochmals zu versichern, eine durchaus plausible Art der Betrachtung. Aber man wird sich doch auch für die tiefere Begründung interessieren müssen, für das, was Montesquieu das Prinzip einer Staats- oder Regierungs­form nennt, für die spezifische Überzeugung, die zu dieser wie zu jeder großen Institution gehört, für den Glauben an das Parlament, den es tatsächlich einmal gegeben hat und den man heute nicht mehr findet. In der Geschichte der politischen Ideen gibt es Epochen großer Impulse und Zeiten der Windstille eines ideenlosen status quo. So ist die Epoche der Monarchie zu Ende, wenn der Sinn für das Prinzip des Königtums, für die Ehre, verloren geht, wenn Bürgerkönige erscheinen, die statt ihrer Weihe und ihrer Ehre ihre Brauchbarkeit und Nützlichkeit zu beweisen suchen. Der äußere Apparat monarchischer Einrichtungen kann dann noch lange stehen bleiben.
Trotzdem hat die Stunde der Monarchie geschlagen. Die Überzeugungen, die eigentümlich zu dieser und keiner anderen Institution gehören, erscheinen dann veraltet; an praktischen Recht­fertigungen wird es nicht fehlen, aber es ist nur Tatfrage, ob Menschen oder Organisationen auftreten, die sich als tatsächlich ebenso brauchbar oder noch brauchbarer erweisen wie die Könige und durch dieses einfache Faktum die Monarchie beseitigen. Ähnlich verhält es sich mit den "sozial-technischen" Recht­fertigungen des Parlaments. Wird das Parlament aus einer Institution von evidenter Wahrheit zu einem bloß praktisch-technischen Mittel, so braucht nur in irgendeinem Verfahren, nicht einmal notwendigerweise durch eine offen sich exponierende Diktatur, via facti gezeigt zu werden, daß es auch anders geht, und das Parlament ist dann erledigt.
***
 
Der Glaube an den Parlamentarismus, an ein government by discussion, gehört in die Gedankenwelt des Liberalismus. Er gehört nicht zur Demokratie. Beides, Liberalismus und Demokratie, muß voneinander getrennt werden, damit das heterogen zusammen­gesetzte Gebilde erkannt wird, das die moderne Massen­demokratie ausmacht.
Jede wirkliche Demokratie beruht darauf, daß nicht nur Gleiches gleich, sondern, mit unvermeidlicher Konsequenz, das Nicht- [14] gleiche nicht gleich behandelt wird. Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens - nötigenfalls - die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen. Zur Illustrierung dieses Satzes sei mit einem Wort an zwei verschiedene Beispiele moderner Demokratien erinnert: an die heutige Türkei mit ihrer radikalen Aussiedlung der Griechen und ihrer rücksichtslosen Türkisierung des Landes - und an das australische Gemeinwesen, das durch Einwanderungs­gesetzgebung unerwünschten Zuzug fernhält und, wie andere Dominions, nur solche Einwanderer zuläßt, die dem right type of settler entsprechen. Die politische Kraft einer Demokratie zeigt sich darin, daß sie das Fremde und Ungleiche, die Homogenität Bedrohende zu beseitigen oder fernzuhalten weiß. Bei der Frage der Gleichheit handelt es sich nämlich nicht um abstrakte, logisch­arithmetische Spielereien, sondern um die Substanz der Gleichheit. Sie kann in bestimmten physischen und moralischen Qualitäten gefunden werden, z. B. in der staats­bürgerlichen Tüchtigkeit, der *arete) - die klassische Demokratie der virtus (vertu). In der Demokratie englischer Sektierer des 17. Jahrhunderts gründet sie sich auf die Übereinstimmung religiöser Überzeugungen. Seit dem 19. Jahrhundert besteht sie vor allem in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation, in der nationalen Homogenität. Immer ist die Gleichheit nur solange politisch interessant und wertvoll, als sie eine Substanz hat und deshalb wenigstens die Möglichkeit und das Risiko einer Ungleichheit besteht. Es gibt vielleicht einzelne Beispiele für den idyllischen Fall, daß ein Gemeinwesen sich in jeder Beziehung selbst genügt, daß gleichzeitig jeder seiner Bewohner ebenfalls diese glückliche Autarkie besitzt und jeder jedem andern physisch, psychisch, moralisch und ökonomisch so ähnlich ist, daß eine Homogenität ohne Heterogenität vorliegt, was in primitiven Bauern­demokratien oder Kolonisten­staaten eine Zeitlang möglich sein könnte. Im übrigen [15] muß man sagen, daß eine Demokratie - weil zur Gleichheit immer auch eine Ungleichheit gehört - einen Teil der vom Staate beherrschten Bevölkerung ausschließen kann, ohne aufzuhören, Demokratie zu sein, daß sogar im Allgemeinen bisher zu einer Demokratie immer auch Sklaven gehörten oder Menschen, die in irgendeiner Form ganz oder halb entrechtet und von der Ausübung der politischen Gewalt ferngehalten waren, mögen sie nun Barbaren, Unzivilisierte, Atheisten, Aristokraten oder Gegen­revolutionäre heißen. Weder in der athenischen Stadtdemokratie noch im englischen Weltreich sind alle Bewohner des Staatsgebietes politisch gleichberechtigt. Von den über 400 Millionen Bewohnern des englischen Weltreiches sind über 300 Millionen nicht englische Bürger. Wenn von englischer Demokratie, "allgemeinem" Wahl- oder Stimmrecht und "allgemeiner" Gleichheit die Rede ist, so werden diese Hunderte von Millionen in der englischen Demokratie ebenso selbstverständlich ignoriert wie die Sklaven in der athenischen Demokratie. Der moderne Imperialismus hat zahlreiche neue, der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung entsprechende Herrschafts­formen herausgebildet, die sich in demselben Maße ausdehnen, wie sich innerhalb des Mutterlandes die Demokratie entwickelt. Kolonien, Protektorate, Mandate, Interventions­verträge und ähnliche Formen der Abhängigkeit ermöglichen es heute einer Demokratie, eine heterogene Bevölkerung zu beherrschen, ohne sie zu Staatsbürgern zu machen, sie von dem demokratischen Staate abhängig zu machen und doch gleichzeitig von diesem Staate fernzuhalten. Das ist der politische und staats­theoretische Sinn der schönen Formel: die Kolonien sind Staatsrechtstaats­rechtlich[wp] Ausland, völker­rechtlich[wp] Inland. Der "weltläufige Sprachgebrauch", d. h. der Sprachgebrauch der angel­sächsischen Weltpresse, dem R. Thoma sich unterwirft und den er sogar für eine staats­theoretische Definition als maßgebend anerkennt, läßt das alles unbeachtet. Für ihn ist angeblich jeder Staat, in welchem das allgemeine und gleiche Wahlrecht "zum Fundament des Ganzen" gemacht ist, eine Demokratie. Beruht etwa das englische Weltreich auf dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht aller seiner Bewohner? Auf diesem Fundament könnte es keine Woche bestehen; die Farbigen würden mit ungeheurer Mehrheit die Weißen über- [16] stimmen. Trotzdem ist das englische Weltreich eine Demokratie. Ähnlich verhält es sich mit Frankreich und anderen Mächten.
Das allgemeine und gleiche Wahl- und Stimmrecht ist vernünftigerweise nur die Folge der substanziellen Gleichheit innerhalb des Kreises der Gleichen und geht nicht weiter als diese Gleichheit. Ein solches gleiches Recht hat einen guten Sinn, wo Homogenität besteht. Die Art Allgemeinheit des Wahlrechts aber, die der "weltläufige Sprachgebrauch" meint, bedeutet etwas anderes: jeder erwachsene Mensch, bloß als Mensch, soll eo ipso jedem andern Menschen politisch gleichberechtigt sein. Das ist ein liberaler, kein demokratischer Gedanke; er setzt eine Menschheits­demokratie an die Stelle der bisher bestehenden, auf der Vorstellung substantieller Gleichheit und Homogenität beruhenden Demokratie.
Heute herrscht auf der Erde keineswegs diese allgemeine Menschheits­demokratie. Von allem andern abgesehen schon deshalb nicht, weil die Erde in Staaten, und zwar meistens sogar national homogene Staaten, geteilt ist, die innerhalb ihrer selbst auf der Grundlage nationaler Homogenität eine Demokratie zu verwirklichen suchen, im übrigen aber keineswegs jeden Menschen als gleichberechtigten Bürger behandeln. Auch der demokratischste Staat, sagen wir die Vereinigten Staaten von Amerika, ist weit davon entfernt, Fremde an seiner Macht oder seinem Reichtum beteiligen zu lassen. Bisher hat es noch keine Demokratie gegeben, die den Begriff des Fremden nicht gekannt und die Gleichheit aller Menschen verwirklicht hätte. Wollte man aber mit einer Menschheitsdemokratie Ernst machen und wirklich jeden Menschen jedem andern politisch gleichstellen, so wäre das eine Gleichheit, an der jeder Mensch kraft Geburt oder Lebensalters ohne weiteres teilnähme. Dadurch hätte man die Gleichheit ihres Wertes und ihrer Substanz beraubt, weil man ihr den spezifischen Sinn genommen hätte, den sie als politische Gleichheit, ökonomische Gleichheit usw. kurz als Gleichheit eines be- [17] stimmten Gebietes hat. Jedes Gebiet hat nämlich seine spezifischen Gleichheiten und Ungleichheiten. So sehr es ein Unrecht wäre, die menschliche Würde jedes einzelnen Menschen zu mißachten, so wäre es doch eine unverantwortliche, zu den schlimmsten Formlosigkeiten und daher zu noch schlimmerem Unrecht führende Torheit, die spezifischen Besonderheiten der verschiedenen Gebiete zu verkennen. Im Bereich des Politischen stehen sich die Menschen nicht abstrakt als Menschen, sondern als politisch interessierte und politisch determinierte Menschen gegenüber, als Staatsbürger, Regierende oder Regierte, politische Verbündete oder Gegner, also jedenfalls in politischen Kategorien. In der Sphäre des Politischen kann man nicht vom Politischen abstrahieren und nur die allgemeine Menschen­gleichheit übrig lassen; ebenso wie im Bereich des ökonomischen nicht Menschen schlechthin, sondern Menschen als Produzenten, Konsumenten usw., d. h. nur in spezifisch ökonomischen Kategorien begriffen werden.
Eine absolute Menschengleichheit wäre also eine Gleichheit, die sich ohne Risiko von selbst versteht, eine Gleichheit ohne das notwendige Korrelat der Ungleichheit und infolgedessen eine begrifflich und praktisch nichtssagende, gleichgültige Gleichheit. Nun gibt es zwar nirgends eine solche absolute Gleichheit, solange, wie oben erwähnt, die verschiedenen Staaten der Erde ihre Staatsbürger von andern Menschen politisch unterscheiden und eine politisch abhängige, aber aus irgendwelchen Gründen unerwünschte Bevölkerung von sich fernzuhalten wissen, indem sie eine völkerrechtliche Abhängigkeit mit einer staats­rechtlichen Fremdheit verbinden. Dagegen scheint wenigstens innerhalb der verschiedenen modernen demokratischen Staaten eine allgemeine Menschen­gleichheit durchgeführt zu sein, zwar keine absolute Gleichheit aller Menschen, weil selbstverständlich die Fremden, die Nicht-Staats­angehörigen, ausgeschlossen bleiben, aber doch, innerhalb des Kreises der Staats­angehörigen, eine relativ weitgehende Menschen­gleichheit. Es ist aber zu beachten, daß in diesem Fall die nationale Homogenität meistens um so stärker betont und die relativ allgemeine Menschen­gleichheit innerhalb des Staates durch den entschiedenen Ausschluß aller nicht zum Staate gehörigen, außerhalb des Staates verbleibenden Menschen wieder aufgehoben wird. [18] Wo das nicht der Fall ist, wo ein Staat ohne Rücksicht auf die nationale oder andere Arten der Homogenität die allgemeine Menschen­gleichheit auf politischem Gebiete durchführen wollte, würde er der Konsequenz nicht entgehen können, daß er die politische Gleichheit in demselben Maße entwertet, wie er sie der absoluten Menschen­gleichheit annähert. Und nicht nur das. Es würde auch, ebenfalls in demselben Maße wie vorhin, das Gebiet selbst, also die Politik selbst, entwertet und etwas Gleichgültiges werden. Man hätte nicht nur die politische Gleichheit ihrer Substanz beraubt und für den einzelnen Gleichen wertlos gemacht, auch die Politik wäre in dem Maße wesenlos geworden, als für ihr Gebiet mit solchen wesenlosen Gleichheiten Ernst gemacht ist. Die Gleichgültigkeit erfaßt auch die Angelegenheiten, die mit den Methoden einer substanzlosen Gleichheit behandelt werden. Die substanziellen Ungleichheiten würden keineswegs aus der Welt und aus dem Staat verschwinden, sondern sich auf ein anderes Gebiet, etwa vom Politischen ins Wirtschaftliche zurückziehen und diesem Gebiet eine neue, unverhältnismäßig starke, überlegene Bedeutung geben. Bei politischer Scheingleichheit muß ein anderes Gebiet, auf welchem die substanziellen Ungleichheiten sich dann durchsetzen, heute also z. B. das Ökonomische, die Politik beherrschen. Das ist ganz unvermeidlich und für eine staats­theoretische Betrachtung der wahre Grund der vielbeklagten Herrschaft des Ökonomischen über Staat und Politik. Wo eine gleichgültige, ohne das Korrelat einer Ungleichheit gedachte Gleichheit ein Gebiet menschlichen Lebens tatsächlich erfaßt, verliert auch dieses Gebiet selbst seine Substanz und tritt in den Schatten eines andern Gebietes, auf welchem dann die Ungleichheiten mit rücksichtsloser Kraft zur Geltung kommen.
Die Gleichheit aller Menschen als Menschen ist nicht Demokratie sondern eine bestimmte Art Liberalismus, nicht Staatsform sondern individualistisch-humanitäre Moral und Weltanschauung. Auf der unklaren Verbindung beider beruht die [19] moderne Massen­demokratie. Trotz aller Beschäftigung mit Rousseau und trotz der richtigen Erkenntnis, daß Rousseau am Anfang der modernen Demokratie steht, scheint man noch nicht bemerkt zu haben, daß schon die Staats­konstruktion des Contrat social diese beiden verschiedenen Elemente inkohärent nebeneinander enthält. Die Fassade ist liberal: Begründung der Rechtmäßigkeit des Staates auf freien Vertrag. Aber im weitern Verlauf der Darstellung und bei der Entwicklung des wesentlichen Begriffes, der volonté générale, zeigt sich, daß der wahre Staat nach Rousseau nur existiert, wo das Volk so homogen ist, daß im wesentlichen Einstimmigkeit herrscht. Es darf nach dem Contrat social im Staate keine Parteien geben, keine Sonder­interessen, keine religiösen Verschiedenheiten, nichts, was die Menschen trennt, nicht einmal ein Finanzwesen. Der von bedeutenden National­ökonomen wie Alfred Weber[wp] und Carl Brinkmann bewunderte Philosoph der modernen Demokratie sagt in allem Ernst: Finanz ist etwas für Sklaven, ein mot d'esclave (Buch III, Kap. 15 Abs. 2), wobei zu beachten ist, daß für Rousseau das Wort "Sklave" die ganze folgenreiche Bedeutung hat, die ihm in der demokratischen Staats­konstruktion zukommt; es bezeichnet den nicht zum Volk Gehörigen, den Nicht-Gleichen, den Nicht-Citoyen, dem es nichts nützt, daß er in abstracto "Mensch" ist, den Heterogenen, der an der allgemeinen Homogenität nicht teilnimmt und deshalb mit Recht ausgeschlossen wird. Die Einmütigkeit muß nach Rousseau soweit gehen, daß die Gesetze sans discussion zustande kommen. Sogar Richter und Partei müssen dasselbe wollen (Buch II, Kap. 4 Abs. 7), wobei nicht einmal gefragt wird, welche von den beiden Parteien, ob Kläger oder Beklagter dasselbe will; kurz, in der bis zur Identität gesteigerten Homogenität versteht sich alles von selbst. Wenn aber Einmütigkeit und Übereinstimmung aller Willen mit allen wirklich so groß ist, wozu braucht dann noch ein Vertrag geschlossen oder auch nur konstruiert zu werden? Der [20] Vertrag setzt doch Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit voraus. Die Einmütigkeit ist ebenso wie die volonté générale entweder vorhanden oder nicht vorhanden, und zwar, wie Alfred Weber treffend gesehen hat, naturhaft vorhanden. Wo sie besteht, ist wegen ihrer Naturhaftigkeit der Vertrag sinnlos; wo sie nicht besteht, nützt kein Vertrag. Der Gedanke des freien Vertrages aller mit allen kommt aus einer ganz andern, gegensätzliche Interessen, Verschiedenheiten und Egoismen voraussetzenden Gedankenwelt, aus dem Liberalismus. Die volonté générale wie Rousseau sie konstruiert ist in Wahrheit Homogenität. Das ist wirklich konsequente Demokratie. Nach dem Contrat social beruht also der Staat, trotz des Titels und trotz der einleitenden Vertrags­konstruktion, nicht auf Kontrakt sondern wesentlich auf Homogenität. Aus ihr ergibt sich die demokratische Identität von Regierenden und Regierten.
Auch die Staatstheorie des Contrat social enthält einen Beweis dafür, daß man die Demokratie richtigerweise als Identität von Regierenden und Regierten definiert. Diese in meiner Schrift "Politische Theologie" (1922) und in der Abhandlung über den Parlamentarismus vorgeschlagene Definition ist, soweit sie bemerkt wurde, teils abgelehnt, teils abgeschrieben worden. Ich möchte daher noch erwähnen, daß sie zwar in ihrer Anwendung auf die heutigen Staatstheorien und in ihrer Erweiterung zu einer Reihe von Identitäten neu ist, im übrigen aber einer alten, man kann sagen klassischen und aus diesem Grunde wohl nicht mehr bekannten Überlieferung entspricht. Wegen ihres Hinweises auf interessante, heute besonders aktuelle staats­rechtliche Konsequenzen mag hier die Formulierung von Pufendorf (De jure Naturae et Gentium, 1672, Buch VII, Kapitel VI, § 8) zitiert werden: in der Demokratie, wo derjenige, der befiehlt und derjenige, der gehorcht derselbe ist, kann der Souverän, d. h. die aus allen Bürgern bestehende Versammlung, beliebig Gesetze und Verfassung ändern; in einer Monarchie oder Aristokratie - ubi alii sunt qui imperant, alii quibus imperatur - ist nach Pufendorfs Meinung ein gegenseitiger Vertrag und daher eine Beschränkung der Staatsgewalt möglich. [21]
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Eine populäre Vorstellung sieht heute den Parlamentarismus in der Mitte zwischen Bolschewismus und Fascismus von zwei Seiten bedroht. Das ist eine einfache, aber äußerliche Gruppierung. Die Schwierigkeiten des parlamentarischen Betriebes und der parlamentarischen Einrichtungen erwachsen in Wahrheit aus den Zuständen der modernen Massen­demokratie. Diese führt zunächst zu einer Krisis der Demokratie selbst, weil mit der allgemeinen Menschen­gleichheit das Problem der zu einer Demokratie notwendigen substanziellen Gleichheit und Homogenität nicht gelöst werden kann. Sie führt ferner zu einer von der Krisis der Demokratie wohl zu unterscheidenden Krisis des Parlamentarismus. Beide Krisen sind heute gleichzeitig aufgetreten und verschärfen sich gegenseitig, sind aber begrifflich und tatsächlich verschieden. Als Demokratie sucht die moderne Massen­demokratie eine Identität von Regierenden und Regierten zu verwirklichen und begegnet auf diesem Wege dem Parlament als einer nicht mehr begreiflichen, veralteten Institution. Wenn mit der demokratischen Identität Ernst gemacht wird, kann nämlich im Ernstfall keine andere verfassungsmäßige Einrichtung vor der alleinigen Maßgeblichkeit des irgendwie geäußerten, unwidersprechlichen Willens des Volkes standhalten. Ihm gegenüber hat insbesondere eine auf der Diskussion von unabhängigen Abgeordneten beruhende Institution keine selbständige Existenzberechtigung, um so weniger, als der Glaube an die Diskussion nicht demokratischen sondern liberalen Ursprungs ist. Man kann heute drei Krisen unterscheiden: die Krisis der Demokratie - von ihr spricht M. J. Bonn, ohne den Gegensatz von liberaler Menschen­gleichheit und demokratischer Homogenität zu beachten; ferner eine Krisis des modernen Staates (Alfred Weber) und endlich eine Krisis des Parlamentarismus. Die hier in Frage stehende Krisis des Parlamentarismus beruht darauf, daß Demokratie und Liberalismus wohl eine Zeitlang miteinander verbunden sein können, wie auch Sozialismus und Demokratie sich verbunden haben, daß aber diese Liberal-Demokratie, sobald sie zur Macht gelangt, sich ebenso zwischen ihren Elementen entscheiden muß wie die Sozial-Demokratie, die übrigens, weil die moderne Massen­demokratie wesentlich liberale Elemente enthält, in Wahrheit eine Sozial-Liberal- [22] Demokratie ist. In der Demokratie gibt es nur die Gleichheit der Gleichen und den Willen derer, die zu den Gleichen gehören. Alle andern Institutionen verwandeln sich in wesenlose sozialtechnische Behelfe, die nicht imstande sind, dem irgendwie geäußerten Willen des Volkes einen eigenen Wert und ein eigenes Prinzip entgegenzusetzen. Die Krisis des modernen Staates beruht darauf, daß eine Massen- und Menschheits­demokratie keine Staatsform, auch keinen demokratischen Staat zu realisieren vermag. Bolschewismus und Fascismus dagegen sind wie jede Diktatur zwar antiliberal, aber nicht notwendig antidemokratisch. In der Geschichte der Demokratie gibt es manche Diktaturen, Cäsarismen und andere Beispiele auffälliger, für die liberalen Traditionen des letzten Jahrhunderts ungewöhnlicher Methoden, den Willen des Volkes zu bilden und eine Homogenität zu schaffen. Es gehört zu den undemokratischen, im 19. Jahrhundert aus der Vermengung mit liberalen Grundsätzen entstandenen Vorstellungen, das Volk könne seinen Willen nur in der Weise äußern, daß jeder einzelne Bürger, in tiefstem Geheimnis und völliger Isoliertheit, also ohne aus der Sphäre des Privaten und Unverantwortlichen herauszutreten, unter "Schutz­vorrichtungen" und "unbeobachtet" - wie die deutsche Reichs­stimm­ordnung vorschreibt - seine Stimme abgibt, dann jede einzelne Stimme registriert und eine arithmetische Mehrheit berechnet wird. Ganz elementare Wahrheiten sind dadurch in Vergessenheit geraten und der heutigen Staatslehre anscheinend unbekannt. Volk ist ein Begriff des öffentlichen Rechts. Volk existiert nur in der Sphäre der Publizität. Die einstimmige Meinung von 100 Millionen Privatleuten ist weder Wille des Volkes, noch öffentliche Meinung. Der Wille des Volkes kann durch Zuruf, durch acclamatio, durch selbstverständliches, unwidersprochenes Dasein ebensogut und noch besser demokratisch geäußert werden als durch den statistischen Apparat, den man seit einem halben Jahrhundert mit einer so minutiösen Sorgfalt ausgebildet hat. Je stärker die Kraft des demokratischen Gefühls, um so sicherer die Erkenntnis, daß Demokratie etwas anderes ist als ein Registriersystem geheimer Abstimmungen. Vor einer, nicht nur in technischen, sondern auch im vitalen Sinne unmittelbaren Demokratie erscheint das aus liberalen Gedankengängen [23] entstandene Parlament als eine künstliche Maschinerie, während diktatorische und zäsaristische Methoden nicht nur von der acclamatio des Volkes getragen, sondern auch unmittelbare Äußerungen demokratischer Substanz und Kraft sein können.
Auch wenn der Bolschewismus unterdrückt und der Fascismus ferngehalten wird, ist deshalb die Krisis des heutigen Parlamentarismus nicht im geringsten überwunden. Denn sie ist nicht als Folge des Auftretens dieser beiden Gegner entstanden; sie war vor ihnen da und würde nach ihnen fortdauern. Sie entspringt den Konsequenzen der modernen Massen­demokratie und im letzten Grunde dem Gegensatz eines von moralischem Pathos getragenen liberalen Individualismus und eines von wesentlich politischen Idealen beherrschten demokratischen Staatsgefühls. Ein Jahrhundert geschichtlicher Verbindungen und gemeinsamen Kampfes gegen den fürstlichen Absolutismus hat die Erkenntnis dieses Gegensatzes aufgehalten. Heute aber tritt seine Entfaltung täglich stärker hervor und läßt sich durch keinen weltläufigen Sprachgebrauch mehr verhindern. Es ist der in seiner Tiefe unüberwindliche Gegensatz von liberalem Einzelmensch-Bewußtsein und demokratischer Homogenität.

Einleitung

Seitdem es einen Parlamentarismus gibt, hat sich auch eine Literatur der Kritik dieses Parlamentarismus entwickelt. Zuerst, begreiflicherweise, auf dem Boden von Reaktion und Restauration, d. h. bei dem politischen Gegner, der im Kampf mit dem Parlamentarismus unterlegen war. Darauf wurden mit zunehmender praktischer Erfahrung die Mängel der Parteiherrschaft bemerkt und hervorgehoben. Endlich kam die Kritik von einer anderen, prinzipiellen Seite, vom linken Radikalismus. So verbinden sich hier Tendenzen von rechts und links, konservative, syndikalistische und anarchistische Argumente, monarchistische, aristokratische und demokratische Gesichtspunkte. Die einfachste Zusammenfassung der heutigen Situation findet man in einer Rede, die der Senator Mosca am 26. November 1922 im italienischen Senat bei der Aussprache über die innere und äußere Politik der Regierung Mussolini hielt. Danach bieten sich als Hilfsmittel gegen die Mängel des parlamentarischen Systems drei radikale Lösungen an: die sogenannte Diktatur des Proletariats; die Rückkehr zu einem mehr oder weniger verhüllten Absolutismus einer Bureaukratie (un assolutismo burocratico); schließlich eine syndikalistische Herrschaftsform, d. h. die Ersetzung der individualistischen Repräsentation im heutigen Parlament durch eine Organisation der Syndikate. Das letzte betrachtete der Redner als die größte Gefahr des parlamentarischen Systems, weil der Syndikalismus nicht Lehrmeinungen und Gefühlen, sondern der wirtschaftlichen Organisation der modernen Gesellschaft entspringe. H. Berthélemy dagegen, der sich in der Vorrede zur letzten (zehnten) Auflage seines "Traité de droit administrativ zu der Angelegenheit äußerte, hält gerade den Syndikalismus für indiskutabel. Er glaubt, es genüge, wenn die Parlamentarier die Gefahr einer Konfusion der Gewalten erkennen, ihre Parteien­wirtschaft aufgeben und für eine gewisse Stabilität der Ministerien sorgen. Im übrigen sieht er sowohl im Regionalismus wie im Industrialismus (d. h. der Übertragung von [27 | 28] Methoden des Wirtschaftslebens auf die Politik) eine Gefahr für den Staat, während er vom Syndikalismus sagt, man könne eine Theorie nicht ernst nehmen, die glaube, alles sei in Ordnung, "quand l'autorité viendra de ceux-là mêmes sur lesquels elle s'exerce et quand le contrôle sera confié à ceux qu'il s'agit précisement de contrôler". Für den Standpunkt guter bureaukratischer Verwaltung ist das sehr richtig; aber was wird dabei aus der demokratischen Lehre, daß alle Autorität der Regierung von den Regierten stammt?
In Deutschland gab es seit langem eine Tradition berufs­ständischer Ideen und Tendenzen, der die Kritik am modernen Parlamentarismus nichts Neues war.
Daneben entstand, besonders in den letzten Jahren, eine Literatur, die sich an die alltäglichen, namentlich seit 1919 gemachten Erfahrungen hielt. In zahlreichen Broschüren und Zeitungsartikeln sind die aufdringlichen Mängel und Fehler des parlamentarischen Betriebes hervorgehoben: die Herrschaft der Parteien, ihre unsachliche Personalpolitik, die "Regierung von Amateuren", fortwährende Regierungskrisen, die Zwecklosigkeit und Banalität der Parlamentsreden, das sinkende Niveau der parlamentarischen Umgangsformen, die auflösenden Methoden parlamentarischer Obstruktion, der Mißbrauch parlamentarischer Immunitäten und Privilegien durch eine radikale, den Parlamentarismus selbst verhöhnende Opposition, die würdelose Diätenpraxis, die schlechte Besetzung des Hauses. Allmählich verbreitete sich auch der Eindruck an sich längst bekannter Beobachtungen: daß das Verhältniswahlrecht und sein Listensystem den Zusammenhang zwischen Wähler und Abgeordnetem aufhebt, der Fraktionszwang ein unentbehrliches Mittel und das sogenannte Repräsentativ­prinzip (Art. 21 R.V.: "Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes; sie sind nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden") sinnlos wird; ferner daß die eigentliche Tätigkeit nicht in den öffentlichen Verhandlungen des Plenums, sondern in Ausschüssen und nicht einmal notwendig in parlamentarischen Ausschüssen sich abspielt und wesentliche Entscheidungen in geheimen Sitzungen der Fraktionsführer oder gar in außer­parlamentarischen Kommitees fallen, sodaß eine Verschiebung und Aufhebung jeder Verantwortlichkeit ein- [29] tritt und auf diese Weise das ganze parlamentarische System schließlich nur eine schlechte Fassade vor der Herrschaft von Parteien und wirtschaftlichen Interessenten ist. Dazu kommt die Kritik an der demokratischen Grundlage dieses parlamentarischen Systems, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts mehr gefühlsmäßig war und aus der alten klassischen Tradition westeuropäischer Bildung, aus der Angst der Gebildeten vor einer Herrschaft der ungebildeten Masse entsprang, eine Furcht vor der Demokratie, deren typischen Ausdruck man in den Briefen von Jacob Burckhardt findet. An ihre Stelle ist seit langem eine Untersuchung der Methoden und der Technik getreten, mit denen [30] die Parteien ihre Wahlpropaganda betreiben, die Massen bearbeiten und die öffentliche Meinung beherrschen. Als Typus dieser Art Literatur kann Ostrogorskis Werk über die Parteien der modernen Demokratie gelten; Bellocs "Party System" machte die Kritik populär; soziologische Untersuchungen des Parteilebens, am meisten das berühmte Buch von Robert Michels, zerstörten, ohne beides genauer zu trennen, zahlreiche parlamentarischen und demokratischen Illusionen. Auch Nichtsozialisten erkannten endlich die Verbindung von Presse, Partei und Kapital und behandelten die Politik nur noch als den Schatten ökonomischer Realitäten.
Im ganzen darf diese Literatur wohl als bekannt vorausgesetzt werden. Das wissenschaftliche Interesse der folgenden Untersuchung ist nicht darauf gerichtet, sie zu bestätigen oder zu widerlegen, sondern zu versuchen, den letzten Kern der Institution des modernen Parlaments zu treffen. Dadurch wird sich von selbst ergeben, wie wenig den heute herrschenden politischen und sozialen Gedankengängen die systematische Basis, aus welcher der moderne Parlamentarismus entstand, überhaupt noch faßbar ist, wieweit die Institution moralisch und geistig ihren Boden verloren hat und nur noch als ein leerer Apparat, kraft einer bloß mechanischen Beharrung mole sua aufrechtsteht. Nur wenn sie sich der Situation geistig bewußt sind, können Reformvorschläge einen Horizont gewinnen. Es ist notwendig, Begriffe wie Demokratie, Liberalismus, Individualismus, Rationalismus, die alle mit dem modernen Parlament in Beziehung gebracht werden, besser zu unterscheiden, damit sie aufhören, provisorische Charakterisierungen und Schlagworte zu sein und damit der hoffnungsvolle Anlauf, endlich einmal von taktischen und technischen Fragen zu geistigen Prinzipien zu gelangen, nicht wieder im Leeren endet.

I. Demokratie und Parlamentarismus

Für das 19. Jahrhundert läßt sich die Geschichte der politischen und staatstheoretischen Ideen mit einem einfachen Schlagwort überblicken: der Siegeszug der Demokratie. Kein Staat des westeuropäischen Kulturkreises hat der Ausbreitung demokratischer Ideen und Institutionen widerstanden. Auch da, wo starke soziale [31] Kräfte sich wehrten, wie in der preußischen Monarchie, fehlte doch eine über den eigenen Kreis hinaus wirkende geistige Energie, die den demokratischen Glauben hätte besiegen können. Fortschritt war eben gleichbedeutend mit Ausdehnung der Demokratie, der antidemokratische Widerstand eine bloße Defensive, Verteidigung historisch überlebter Dinge und der Kampf des Alten mit dem Neuen. Jede Epoche politischen und staatlichen Denkens hat solche Vorstellungen, die ihr in einem spezifischen Sinne evident erscheinen und, wenn auch vielleicht unter vielen Mißverständnissen und Mythologisierungen, großen Massen ohne weiteres einleuchten. Im 19. Jahrhundert und bis ins 20. Jahrhundert hinein war diese Art Selbstverständlichkeit und Evidenz sicher auf der Seite der Demokratie. Ranke bezeichnete die Idee der Volkssouveränität als stärkste Idee der Zeit und ihre Auseinandersetzung mit dem Prinzip der Monarchie als die leitende Tendenz des Jahrhunderts. Inzwischen hat die Auseinandersetzung vorläufig mit dem Sieg der Demokratie geendet.
Seit den dreißiger Jahren verbreitete sich bei allen bedeutenden Franzosen, die ein Gefühl für geistige Aktualität hatten, mehr und mehr der Glaube, daß Europa wie unter einem unentrinnbaren Schicksal demokratisch werden müsse. Am tiefsten hat es wohl Alexis von Tocqueville[wp] empfunden und ausgesprochen. Guizot war davon beherrscht, obwohl auch er die Angst vor dem demokratischen Chaos kannte. Eine providentielle Fügung schien für die Demokratie sich entschieden zu haben. Man hatte ein oft wiederholtes Bild dafür: die Flut der Demokratie, gegen die es seit 1789 keinen Damm zu geben schien. Unter dem Einfluß von Guizot steht auch die eindrucksvolle Schilderung dieser Entwicklung, die Taine in seiner Englischen Literatur­geschichte gegeben hat. Man beurteilte die Entwicklung verschieden: Tocqueville mit einer aristokratischen Angst vor einer embourgeoisierten Menschheit, dem "troupeau d'animaux industrieux et timides"; Guizot hoffte den furchtbaren Strom regulieren zu können; Michelet hatte einen enthusiastischen Glauben an die natürliche Güte des "Volkes", Renan den Degout des Gelehrten [32] und die Skepsis des Historikers; die Sozialisten waren überzeugt, die wahren Erben der Demokratie zu sein. Es ist ein Beweis für die merkwürdige Evidenz demokratischer Ideen, daß auch der Sozialismus, der als die neue Idee des 19. Jahrhunderts auftrat, sich für eine Verbindung mit der Demokratie entschied. Viele hatten versucht, ihn mit der bestehenden Monarchie zu koalieren, weil das liberale Bürgertum für die konservative Monarchie wie für die proletarischen Massen der gemeinsame Gegner war. Diese taktische Zusammengehörigkeit äußerte sich wohl in verschiedenen Kombinationen und hatte auch in England unter Disraeli Erfolg, kam aber im Endergebnis wiederum nur der Demokratie zugute. In Deutschland blieb es in dieser Hinsicht bei frommen Wünschen und einem "romantischen Sozialismus". Die sozialistische Organisation der Arbeitermassen übernahm hier so sehr gerade den fortschrittlich-demokratischen Gedanken, daß sie in Deutschland als radikale Vorkämpferin dieser Ideen erschien, die bürgerliche Demokratie weit übertraf und die doppelte Aufgabe hatte, neben ihren sozialistischen auch noch demokratische Forderungen zu gleicher Zeit zu verwirklichen. Beides konnte man für identisch halten, weil man beides für den Fortschritt und die Zukunft hielt. So erschien die Demokratie mit der Evidenz einer unwiderstehlich kommenden und sich ausbreitenden Macht. Solange sie ein wesentlich polemischer Begriff, d. h. die Negation der bestehenden Monarchie war, ließ sich die demokratische Überzeugung mit verschiedenen anderen politischen Bestrebungen verbinden und vereinbaren. In dem Maße aber wie sie Wirklichkeit wurde ergab sich, daß sie vielen Herren diente und keineswegs ein inhaltlich eindeutiges Ziel hatte. Als ihr wichtigster Gegner, das monarchische Prinzip, schwand, verlor sie selbst an inhaltlicher Präzision und teilte das Schicksal jedes polemischen Begriffes. Zuerst war sie in einer ganz selbstverständlichen Verbindung und sogar Identität mit Liberalismus und Freiheit aufgetreten. In der Sozial-Demokratie ging sie mit dem Sozialismus zusammen. An dem Erfolg Napoleons III. und den Resultaten schweizerischer Referenten stellte man fest, daß sie auch konservativ und reaktionär sein konnte, was übrigens Proudhon gleich prophezeit hatte. Wenn alle politischen Richtungen sich der Demokratie bedienen konnten, so war [33] erwiesen, daß sie keinen politischen Inhalt hatte und nur eine Organisationsform war; und wenn man von einem anderweitigen politischen Inhalt, den man mit Hilfe der Demokratie zu erreichen hoffte, absah, mußte man sich fragen, welchen Wert sie ihrer selbst wegen als bloße Form hatte. Die Frage war nicht damit beantwortet, daß man versuchte, ihr einen Inhalt zu geben, indem man sie vom politischen auf das wirtschaftliche Gebiet anzuwenden versuchte. In zahlreichen Publikationen finden sich solche Übertragungen vom Politischen ins Ökonomische. Der englische Gilden­sozialismus nennt sich wirtschaftliche Demokratie; eine bekannte Analogie von konstitutionellem Staat und konstitutioneller Fabrik wurde nach allen möglichen Richtungen ausgedehnt. In Wahrheit bedeutete das eine wesentliche Veränderung des Begriffes der Demokratie, denn politische Gesichtspunkte lassen sich nicht auf ökonomische Beziehungen übertragen, solange in der Wirtschaft Vertragsfreiheit und Privatrecht herrschen. Max Weber hat in seiner Schrift "Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland" (1918) ausgeführt, daß der Staat soziologisch nur noch ein großer Betrieb ist und heute ein wirtschaftlicher Verwaltungs­apparat, eine Fabrik und der Staat nicht mehr wesens­verschieden sind. Hieraus zog Kelsen in einer Abhandlung über "Wesen und Wert der Demokratie" (1921) voreilig den Schluß: "Darum ist ja auch das Organisations­problem in beiden Fällen grundsätzlich das gleiche und Demokratie nicht nur eine Frage des Staates, sondern auch der wirtschaftlichen Betriebe." Eine politische Organisationsform hört aber auf, politisch zu sein, wenn sie, wie die moderne Wirtschaft, auf privat-rechtlicher Basis aufgebaut wird. Es gibt wohl Analogien zwischen dem Monarchen, dem absoluten Herrn im Staat, und dem privat­kapitalistischen Unternehmer, dem (natürlich in ganz anderem Sinne) absoluten Herrn in seinem Betrieb; es gibt auf beiden Seiten Möglichkeiten einer Mitwirkung der Untergebenen; aber Form und Inhalt der Autorität, der Publizität und der Repräsentation sind wesentlich verschieden. Übrigens würde es auch allen Regeln ökonomischen Denkens zuwiderlaufen, die unter ganz andern wirtschaftlichen Voraussetzungen geschaffenen politischen Formen im Wege der Analogie auf moderne wirtschaftliche Tatbestände anzuwenden; um das bekannte ökonomische Bild zu verwerten: die [34] Struktur eines Überbaues auf einen wesentlich anderen Unterbau zu übertragen.
Die verschiedenen Völker oder sozialen und ökonomischen Gruppen, die sich "demokratisch" organisieren, haben nur abstrakt dasselbe Subjekt "Volk". In concreto sind die Massen soziologisch und psychologisch heterogen. Eine Demokratie kann militaristisch oder pazifistisch sein, absolutistisch oder liberal, zentralistisch oder dezentralisierend, fortschrittlich oder reaktionär, und alles wieder zu verschiedenen Zeiten verschieden, ohne aufzuhören, Demokratie zu sein. Daß man ihr durch eine Übertragung auf das ökonomische Gebiet keinen Inhalt geben kann, sollte sich bei diesem einfachen Sachverhalt von selbst verstehen. Was bleibt also von der Demokratie? Für ihre Definition eine Reihe von Identitäten. Es gehört zu ihrem Wesen, daß alle Entscheidungen, die getroffen werden, nur für die Entscheidenden selbst gelten sollen. Daß hierbei die überstimmte Minderheit ignoriert werden muß, macht nur theoretisch und nur scheinbar Schwierigkeiten. In Wirklichkeit beruht auch das auf der Identität, die in der demokratischen Logik immer wiederkehrt, und auf der - wie sich gleich zeigen wird - wesentlich demokratischen Argumentation, daß der Wille der überstimmten Minderheit in Wahrheit mit dem Willen der Mehrheit identisch ist. Rousseaus oft zitierte Ausführungen im Contrat social (1. IV ch. 2, al. 8) sind für das demokratische Denken fundamental und entsprechen übrigens einer alten Tradition; sie kommen ziemlich wörtlich ebenso bei Locke vor: in der Demokratie stimmt der Bürger auch dem Gesetze zu, das gegen seinen Willen geht; denn das Gesetz ist die volonté géneralé, und das ist wiederum der Wille der freien Bürger; der Bürger gibt also eigentlich niemals einem konkreten Inhalt seine Zustimmung, sondern in abstracto dem Resultat, dem aus der Abstimmung sich ergebenden Generalwillen, und er gibt diese Stimme nur ab, um die Kalkulation der Stimmen, aus der man diesen Generalwillen erkennt, zu ermöglichen. Weicht das Resultat von dem Inhalt der Abstimmung des Einzelnen ab, so erfährt der Überstimmte, daß er sich über den Inhalt des Generalwillens geirrt hat; "cela ne prouve autre chose si non que je m'étais trompé et ce que j'estimais être la volonté générale ne l'était pas". Und weil, wie [35] Rousseau ausdrücklich fortfährt, der Generalwille der wahren Freiheit entspricht, so war der Überstimmte nicht frei. Mit dieser Jakobiner­logik kann man bekanntlich auch die Herrschaft der Minderheit über die Mehrheit rechtfertigen und zwar gerade unter Berufung auf die Demokratie. Der Kern des demokratischen Prinzips bleibt dabei gewahrt, nämlich die Behauptung einer Identität von Gesetz und Volkswillen, und für eine abstrakte Logik macht es eigentlich gar keinen Unterschied, ob man den Willen der Mehrheit oder den Willen der Minderheit mit dem Willen des Volkes identifiziert, wenn es doch in keinem Falle der absolut einstimmige Wille aller (auch der unmündigen) Staatsbürger sein kann.
Wenn das Wahlrecht in immer weiter ausgedehnter Verbreitung einer steigenden Zahl von Menschen verliehen wird, so ist das ein Symptom für das Bestreben, die Identität von Staat und Volk zu realisieren; ihm liegt eine bestimmte Auffassung über die Voraussetzungen, unter denen man die Identität als wirklich annimmt, zugrunde. Auch das ändert nichts an dem Grundgedanken, daß logisch alle demokratischen Argumente auf einer Reihe von Identitäten beruhen. In diese Reihe gehören: Identität von Regierenden und Regierten, Herrscher und Beherrschten, Identität von Subjekt und Objekt staatlicher Autorität, Identität des Volkes mit seiner Repräsentation im Parlament, Identität von Staat und jeweilig abstimmenden Volk, Identität von Staat und Gesetz, letztlich Identität des Quantitativen (ziffern­mäßige Mehrheit oder Einstimmigkeit) mit dem Qualitativen (Richtigkeit des Gesetzes).
Alle solchen Identitäten sind aber nicht handgreifliche Wirklichkeit, sondern beruhen auf einer Anerkennung der Identität. Weder juristisch noch politisch noch soziologisch handelt es sich um etwas real Gleiches, sondern um Identifikationen. Ausdehnung des Wahlrechts, Abkürzung der Wahlperioden, Einführung und Ausdehnung von Volksentscheiden, kurz alles, was man als Tendenzen und Einrichtungen der unmittelbaren Demokratie bezeichnet und was, wie eben erwähnt, durchaus von dem Gedanken einer Identität beherrscht ist, ist zwar konsequent demokratisch, kann aber doch niemals eine absolute, unmittelbare, in jedem Augenblick in realitate präsente Identität erreichen. Immer bleibt eine Distanz [36] zwischen der realen Gleichheit und dem Resultat der Identifikation. Der Wille des Volkes ist natürlich immer identisch mit dem Willen des Volkes, ob nun aus dem Ja oder Nein von Millionen abgegebenen Stimmzetteln eine Entscheidung abgegeben wird, oder ob ein einzelner Mensch auch ohne Abstimmung den Willen des Volkes hat, oder das Volk auf irgendeine Weise "akklamiert". Alles kommt darauf an, wie der Wille gebildet wird. Die uralte Dialektik der Lehre vom Willen des Volkes ist immer noch nicht gelöst: die Minderheit kann den wahren Willen des Volkes haben; das Volk kann getäuscht werden; man kennt ja seit langem die Technik der Propaganda und der Bearbeitung der öffentlichen Meinung. Diese Dialektik ist so alt wie die Demokratie selbst und beginnt keineswegs erst mit Rousseau[wp] oder den Jakobinern. Gleich in den Anfängen der modernen Demokratie stößt man auf den merkwürdigen Widerspruch, daß die radikalen Demokraten ihren demokratischen Radikalismus als ein Auslese­kriterium ansehen, um sich als wahre Vertreter des Volkswillens von den anderen zu unterscheiden, woraus sich eine sehr undemokratische Exklusivität ergibt. Zunächst praktisch, indem nur den Vertretern der wahren Demokratie politische Rechte zugebilligt werden und im gleichen Augenblick eine neue Aristokratie entsteht - eine alte soziologische Erscheinung, die sich in jeder Revolution wiederholt und nicht etwa erst mit den Novembersozialisten des Jahres 1918 auftaucht, sondern überall die 1848 sogenannten "républicains de la veille" zeigte. Es ist ganz konsequent, daß die Demokratie nur für ein wahrhaft demokratisch denkendes Volk eingeführt werden darf. Die ersten unmittelbaren Demokraten der Neuzeit, die Levellers der puritanischen Revolution, haben sich dieser demokratischen Dialektik nicht entziehen können. Ihr Führer Lilburne sagt in seinem "Legal fundamental Liberties of the people of England" (1649), daß nur die Gutgesinnten, die "well-affected", ein Wahlrecht haben dürfen, daß die von diesen Gutgesinnten gewählten Vertreter die Gesetzgebung vollständig in der Hand behalten müssen und die Verfassung ein von den Gutgesinnten unterzeichneter Vertrag sein muß. [37]
Es scheint also das Schicksal der Demokratie zu sein, sich im Problem der Willens­bildung selbst aufzuheben. Für den radikalen Demokraten hat die Demokratie als solche einen eigenen Wert, ohne Rücksicht auf den Inhalt der Politik, die man mit Hilfe der Demokratie macht. Besteht aber Gefahr, daß die Demokratie benutzt wird, um die Demokratie zu beseitigen, so muß der radikale Demokrat sich entschließen, auch gegen die Mehrheit Demokrat zu bleiben oder aber sich selbst aufzugeben. Sobald die Demokratie den Inhalt eines in ihr selbst ruhenden Wertes bekommt, kann man nicht mehr (im formalen Sinne) Demokrat um jeden Preis sein. Eine merkwürdige Tatsache und Notwendigkeit, aber keineswegs abstrakte Dialektik und sophistische Spielerei. Die Situation, daß die Demokraten in der Minderheit sind, tritt doch sehr oft ein. Auch kommt es vor, daß sie aus vermeintlich demokratischen Grundsätzen für das Frauen­stimmrecht eintreten und dann die Erfahrung machen, daß die Frauen in ihrer Mehrheit nicht demokratisch wählen. Dann entwickelt sich jenes alte Programm der Volkserziehung: das Volk kann durch richtige Erziehung dahin gebracht werden, daß es seinen eigenen Willen richtig erkennt, richtig bildet und richtig äußert. Das bedeutet praktisch nichts anderes, als daß der Erzieher wenigstens vorläufig seinen Willen mit dem des Volkes identifiziert; gar nicht davon zu reden, daß der Inhalt dessen, was der Zögling wollen wird, ebenfalls vom Erzieher bestimmt ist. Die Konsequenz dieser Erziehungs­lehre ist die Diktatur, die Suspendierung der Demokratie im Namen der wahren, erst noch zu schaffenden Demokratie. Das hebt die Demokratie theoretisch nicht auf. Es ist aber wichtig, darauf zu achten, weil es zeigt, daß Diktatur nicht der Gegensatz zu Demokratie ist. Auch während einer solchen vom Diktator beherrschten Übergangszeit kann die demokratische Identität herrschen und der Wille des Volkes allein maßgebend sein. Freilich zeigt sich dann auch in besonders auffälliger Weise, daß die allein praktische Frage die Identifikation betrifft, nämlich die Frage, wer über die Mittel verfügt, um den Willen des Volkes zu bilden: militärische und politische Gewalt, Propaganda, Herrschaft über [38] die öffentliche Meinung durch Presse, Partei­organisationen, Versammlungen, Volksbildung, Schule. Insbesondere kann die politische Macht den Willen des Volkes, aus dem sie hervorgehen soll, selber erst bilden.
Man darf angesichts der Ausbreitung des demokratischen Gedankens heute wohl sagen, daß jene Identität mit dem Willen des Volkes so sehr gemeinsame Prämisse geworden ist, daß sie aufgehört hat, politisch interessant zu sein und der Kampf sich nur noch um die Mittel der Identifikation bewegt. Es wäre töricht, hier eine allgemein herrschende Übereinstimmung zu leugnen. Nicht nur, weil es heute keine Könige gibt, die den Mut haben, offen zu erklären, daß sie nötigenfalls auch gegen den Willen des Volkes auf dem Throne bleiben, sondern deshalb, weil jede beachtenswerte politische Macht hoffen kann, eines Tages die Identifikation durch irgendwelche Mittel zu erreichen, und deshalb kein Interesse daran hat, die Identität zu leugnen, im Gegenteil, eher ein Interesse, sie bestätigt zu wissen.
Die Herrschaft der bolschewistischen Regierung in Sowjetrußland gilt zwar als auffälliges Beispiel einer Mißachtung demokratischer Prinzipien. Ihre theoretische Argumentation bleibt aber (mit den im IV. Kapitel zu erwähnenden Einschränkungen) in demokratischen Bahnen und benutzt nur die moderne Kritik und die modernen Erfahrungen, die man mit dem Mißbrauch der politischen Demokratie gemacht hat: was in den Staaten westeuropäischer Kultur heute an Demokratie herrscht, ist für sie nur ein Betrug der ökonomischen Herrschaft des Kapitals über Presse und Parteien, d. h. der Betrug eines falsch gebildeten Volkswillens; der Kommunismus soll erst die wahre Demokratie herbeiführen. Von der ökonomischen Begründung abgesehen, ist das in seiner Struktur das alte jakobinische Argument. Auf der entgegengesetzten Seite konnte ein royalistischer Schriftsteller seine Verachtung für die Demokratie in dem Satze aussprechen: die heute herrschende öffentliche Meinung sei etwas derartig Dummes, daß sie bei richtiger Behandlung auch zum Verzicht auf ihre eigene Macht zu bringen sei; das hieße zwar "demander un acte de bon sens à ce qui est privé de sens, mais n'est-il pas toujours possible [39] de trouver des motifs absurdes pour un acte qui ne l'est point"? Hier herrscht auf beiden Seiten eine Übereinstimmung. Wenn der Theoretiker des Bolschewismus die Demokratie im Namen einer wahren Demokratie suspendiert, und wenn der Feind der Demokratie hofft, sie zu düpieren, so setzt der eine die theoretische Richtigkeit demokratischer Prinzipien voraus und der andere ihre tatsächliche Herrschaft, mit der man rechnen muß. Nur der italienische Fascismus legt anscheinend keinen Wert darauf, "demokratisch" zu sein. Von ihm abgesehen, wird man sagen müssen, daß bisher das demokratische Prinzip unbestritten allgemein anerkannt ist.
Für die rechtswissenschaftliche Behandlung des öffentlichen Rechts ist das von Bedeutung. Weder eine Theorie noch die Praxis von {{W|Staatsrecht (Deutschland)|Staats- und Völkerrecht[wp] vermögen ohne einen Begriff von Legitimität auszukommen, und deswegen ist es wichtig, daß die heute herrschende Art der Legitimität tatsächlich demokratisch ist. Die Entwicklung von 1815 bis 1918 läßt sich darstellen als die Entwicklung eines Legitimitäts­begriffes: von der dynastischen zur demokratischen Legitimität. Das demokratische Prinzip muß heute eine analoge Bedeutung beanspruchen, wie früher das monarchische. Es handelt sich hier nicht darum, das auszuführen; doch muß wenigstens gesagt werden, daß ein Begriff wie Legitimität nicht sein Subjekt wechseln kann, ohne seine Struktur und seinen Inhalt zu ändern. Es gibt zwei verschiedene Arten von Legitimität, ohne daß der Begriff aufgehört hätte, unentbehrlich zu sein und wesentliche Funktionen wahrzunehmen, wenn auch die Juristen sich ihrer wenig bewußt werden. Staatsrechtlich gilt heute im Allgemeinen jede Regierung als nur provisorisch, bis sie durch eine nach demokratischen Grundsätzen zustande gekommene konstituierende Versammlung sanktioniert ist, und jede nicht auf dieser Basis beruhende Macht erscheint als Usurpation. Man nimmt eben an (obwohl es sich keineswegs aus dem Prinzip der Demokratie ergibt), daß das Volk wirklich schon reif ist und keiner jakobinischen Erziehungs­diktatur mehr bedarf. Völkerrechtlich äußert sich die heute verbreitete Rechts­überzeugung und der auf [40] der Forderung einer konstituierenden Versammlung beruhende Legitimitätsbegriff darin, wie man eine Intervention in Verfassungs­angelegenheiten eines Staates beurteilt. Man bezeichnet es als einen fundamentalen Unterschied zwischen der heiligen Allianz und dem heutigen Völkerbund, daß der Völkerbund nur den äußeren Status quo seiner Mitglieder garantiert und sich jeder Einmischung in interne Angelegenheiten enthält. Aber mit derselben Konsequenz, mit der die monarchische Legitimität zu Interventionen führen kann, lassen sich auch unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker Interventionen rechtfertigen. In zahlreichen, demokratischer Überzeugung entsprungenen Protesten gegen die Sowjetregierung ist die wesentliche Voraussetzung dieses demokratischen Grundsatzes der Nichtintervention zu erkennen, daß nämlich die Verfassung nicht dem Willen des Volkes widersprechen darf. Wird unter Verletzung demokratischer Prinzipien eine Verfassung oktroyiert, so darf das Selbst­bestimmungs­recht des Volkes wiederhergestellt werden, und das geschieht eben im Wege einer Intervention. Eine auf dem monarchischen Legitimitätsbegriff beruhende Intervention ist für das demokratische Denken nur deshalb rechtswidrig, weil sie das demokratische Prinzip der Selbstbestimmung des Volkes verletzt. Dagegen würde eine durch Intervention bewirkte Herstellung der freien Selbstbestimmung, eine Befreiung des Volkes vom Tyrannen, das Prinzip der Nichtintervention keineswegs verletzen, sondern nur die Voraussetzungen für das Prinzip der Nichtintervention schaffen. Auch ein moderner Völkerbund auf demokratischer Grundlage braucht einen Legitimitäts­begriff und braucht infolgedessen die Möglichkeit einer Intervention, wenn das Prinzip, das seine juristische Basis ist, verletzt wird.
Man darf also heute für viele juristische Untersuchungen von einer Anerkennung demokratischer Grundsätze ausgehen, ohne dem Mißverständnis ausgesetzt zu sein, alle Identifikationen vorzunehmen, welche die politische Wirklichkeit der Demokratie ausmachen. Theoretisch, und in kritischen Zeiten auch praktisch, ist die Demokratie ohnmächtig vor dem jakobinischen Argument, d. h. vor einer entscheidenden Identifikation einer Minderheit mit [41] dem Volk und vor der entscheidenden Übertragung des Begriffes aus dem Quantitativen ins Qualitative. Das Interesse richtet sich demnach auf die Bildung und Formierung des Volkswillens, und der Glaube, daß alle Gewalt vom Volke kommt, erhält eine ähnliche Bedeutung wie der Glaube, daß alle obrigkeitliche Gewalt von Gott kommt. Jeder dieser Sätze läßt für die politische Wirklichkeit verschiedene Regierungsformen und juristische Konsequenzen zu. Eine wissenschaftliche Betrachtung der Demokratie wird sich auf ein besonderes Gebiet begeben müssen, das ich als politische Theologie bezeichnet habe. Weil im 19. Jahrhundert Parlamentarismus und Demokratie derartig miteinander verbunden waren, daß sie als gleichbedeutend hingenommen wurden, mußten diese Bemerkungen über die Demokratie vorausgeschickt werden. Es kann eine Demokratie geben ohne das, was man modernen Parlamentarismus nennt und einen Parlamentarismus ohne Demokratie; und Diktatur ist ebensowenig der entscheidende Gegensatz zu Demokratie wie Demokratie der zu Diktatur.

II. Die Prinzipien des Parlamentarismus

Im Kampf zwischen Volksvertretung und Monarchie nannte man eine von der Volksvertretung maßgebend beeinflußte Regierung parlamentarische Regierung, wandte also das Wort auf eine bestimmte Art der Exekutive an. Dadurch hat sich der Sinn des Begriffes "Parlamentarismus" verändert. "Parlamentarische Regierung" setzt ein Parlament als gegeben voraus, und eine solche Regierung fordern, bedeutet, daß man vom Parlament als einer bereits existierenden Institution ausgeht, um ihre Befugnisse auszudehnen, in der Sprechweise des Konstitutionalismus: daß die Legislative die Exekutive beeinflussen soll. Der Grundgedanke des parlamentarischen Prinzips kann nicht wesentlich auf dieser Beteiligung der Parlamente an der Regierung beruhen, und von einer Erörterung dieses Postulats der parlamentarischen Regierung ist für die hier interessierende Frage nicht viel zu erwarten. Hier handelt es sich um die letzte geistige Grundlage des Parlamentaris- [42] mus selbst, nicht um die Erweiterung der Macht des Parlaments. Warum ist für viele Generationen das Parlament wirklich ein ultimum sapientiae gewesen und worauf beruht der Glaube, den ein ganzes Jahrhundert für diese Institution hatte? Die Forderung, das Parlament müsse die Regierung kontrollieren und auf die Bestimmung ihm verantwortlicher Minister Einfluß haben, setzt jenen Glauben voraus.
Die älteste, durch alle Jahrhunderte wiederholte Rechtfertigung des Parlaments liegt in einer Erwägung äußerlicher "Expeditivität" : eigentlich müßte das Volk in seiner wirklichen Gesamtheit entscheiden, wie das ursprünglich der Fall war, als sich noch alle Gemeindemitglieder unter der Dorflinde versammeln konnten; aber aus praktischen Gründen ist es heute unmöglich, daß alle zu gleicher Zeit an einem Platze zusammenkommen; auch ist es unmöglich, alle wegen jeder Einzelheit zu befragen; deshalb hilft man sich vernünftigerweise mit einem gewählten Ausschuß von Vertrauensleuten, und das ist eben das Parlament. So entsteht die bekannte Stufenleiter: das Parlament ist ein Ausschuß des Volkes, die Regierung ein Ausschuß des Parlaments. Dadurch erscheint der Gedanke des Parlamentarismus als etwas wesentlich Demokratisches. Aber trotz aller Gleichzeitigkeit und aller Zusammenhänge mit demokratischen Ideen ist er das nicht, ebensowenig wie er in den praktischen Gesichtspunkten der Expedienz aufgeht. Wenn aus praktischen und technischen Gründen statt des Volkes Vertrauensleute des Volkes entscheiden, kann ja auch im Namen desselben Volkes ein einziger Vertrauensmann entscheiden, und die Argumentation würde, ohne aufzuhören demokratisch zu sein, einen antiparlamentarischen Cäsarismus rechtfertigen. Demnach kann sie der Idee des Parlamentarismus nicht spezifisch sein, und daß das Parlament ein Ausschuß des Volkes ist, ein Kollegium von Vertrauensmännern, ist nicht das Wesentliche. Es liegt sogar ein Widerspruch darin, daß das Parlament, als der erste Ausschuß, für die Dauer der Wahlperiode vom Volk unabhängig sein soll und nicht beliebig abberufbar ist, während die parlamentarische Regierung, der zweite Ausschuß, in jedem Augenblick vom Ver- [43] trauen des ersten Ausschusses abhängig bleibt und daher jederzeit abberufen werden kann.
 
[Marginalie: Öffentliche Diskussion]
 
Die ratio des Parlaments liegt nach der treffenden Bezeichnung von Rudolf Smend im "Dynamisch-Dialektischen", d. h, in einem Prozeß der Auseinandersetzung von Gegensätzen und Meinungen, aus dem sich der richtige staatliche Wille als Resultat ergibt. Das Wesentliche des Parlaments ist also öffentliches Verhandeln von Argument und Gegenargument, öffentliche Debatte und öffentliche Diskussion, Parlamentieren, wobei zunächst noch nicht an Demokratie gedacht zu werden braucht. Der absolut typische Gedankengang findet sich bei dem absolut typischen Repräsentanten des Parlamentarismus, bei Guizot. Ausgehend vom Recht (als dem Gegensatz zur Macht) zählt er als Wesensmerkmale des die Herrschaft des Rechts garantierenden Systems auf: 1. daß die "pouvoirs" immer gezwungen sind, zu diskutieren und dadurch gemeinsam die Wahrheit zu suchen; 2. daß die Öffentlichkeit des ganzen staatlichen Lebens die "pouvoirs" unter die Kontrolle der Bürger stellt; 3. daß die Preßfreiheit die Bürger veranlaßt, selbst die Wahrheit zu suchen und sie dem "pouvoir" zu sagen. Das [44] Parlament ist infolgedessen der Platz, an dem die unter den Menschen verstreuten, ungleich verteilten Vernunftpartikeln sich sammeln und zur öffentlichen Herrschaft bringen. Das scheint [45] eine typisch rationalistische Vorstellung zu sein. Doch wäre es unvollständig und ungenau, das moderne Parlament als eine aus rationalistischem Geist entstandene Institution zu definieren. Seine letzte Rechtfertigung und seine epochale Evident beruhen darauf, daß dieser Rationalismus nicht absolut und unmittelbar, sondern in einem spezifischen Sinne relativ ist. Gegen jenen Satz von Guizot hatte Mohl eingewendet: wo ist irgendeine Sicherheit, daß gerade im Parlament die Träger der Vernunft­bruch­stücke sind? Die Antwort liegt in den Gedanken der freien Konkurrenz und der prästabilierten Harmonie, die allerdings in der Institution des Parlaments, wie überhaupt in der Politik, oft in kaum erkennbaren Verkleidungen auftreten.
Es ist notwendig, den Liberalismus als konsequentes, umfassendes, metaphysisches System zu sehen. Gewöhnlich erörtert man nur die ökonomische Schlußfolgerung, daß aus der freien wirtschaftlichen Konkurrenz privater Individuen, aus Vertragsfreiheit, Handelsfreiheit, Gewerbefreiheit die soziale Harmonie der Interessen und der größtmögliche Reichtum sich von selbst ergeben. Alles dieses ist aber nur ein Anwendungsfall des allgemeinen liberalen Prinzips. Es ist durchaus dasselbe, daß aus dem [46] freien Kampf der Meinungen die Wahrheit entsteht als die aus dem Wettbewerb von selbst sich ergebende Harmonie. Hier liegt auch der geistige Kern dieses Denkens überhaupt, sein spezifisches Verhältnis zur Wahrheit, die zu einer bloßen Funktion eines ewigen Wettbewerbs der Meinungen wird. Der Wahrheit gegenüber bedeutet es den Verzicht auf ein definitives Resultat. Deutschem Denken ist diese ewige Diskussion in der romantischen Vorstellung des ewigen Gesprächs zugänglicher gewesen, und es darf hier beiläufig bemerkt werden, daß sich die ganze ideen­geschichtliche Unklarheit der üblichen Auffassungen über die deutsche politische Romantik, die als konservativ und antiliberal bezeichnet wird, schon an diesem Zusammenhang verrät. Redefreiheit, Preßfreiheit, Versammlungs­freiheit, Diskussions­freiheit sind also nicht nur nützliche und zweckmäßige Dinge, sondern eigentliche Lebensfragen des Liberalismus. Guizot hat in seiner Aufzählung der drei Merkmale des Parlamentarismus neben der Diskussion und der Öffentlichkeit als drittes die Preßfreiheit besonders genannt. Man sieht leicht, daß Preßfreiheit nur ein Mittel für Diskussion und Öffentlichkeit ist, also eigentlich kein selbständiges Moment. Aber sie ist für die beiden anderen charakteristischen Merkmale das charakteristische Mittel, und so rechtfertigt es sich, daß Guizot sie besonders hervorhebt.
Nur wenn die zentrale Stellung der Diskussion im liberalen System richtig erkannt wird, erhalten zwei politische Forderungen, die für den liberalen Rationalismus bezeichnend sind, ihre richtige Bedeutung und werden aus der unklaren Atmosphäre von Schlagworten und politisch-taktischen Zweck­mäßigkeits­erwägungen zu wissenschaftlicher Klarheit erhoben: das Postulat der Öffentlichkeit des politischen Lebens und die Forderung einer Gewaltenteilung, richtiger die Lehre von der Balancierung entgegen­gesetzter Kräfte, aus welcher Balancierung sich das Richtige als Gleichgewicht von selbst ergeben soll. Wegen der entscheidenden Bedeutung, die der Öffentlichkeit, besonders der Herrschaft der öffentlichen Meinung im liberalen Denken zukommt, scheint es, als wären Liberalismus und Demokratie hier identisch. In der Gewaltenteilungslehre ist das offenbar nicht der Fall. Sie wurde, im Gegenteil, von Hasbach benutzt, um den schärfsten Gegensatz [47] von Liberalismus und Demokratie zu konstruieren. Dreiteilung der Gewalten, inhaltliche Unterscheidung von Legislative und Exekutive, Ablehnung des Gedankens, daß die Fülle der Staatsgewalt sich an einem Punkte sammeln dürfe, alles das enthält in der Tat einen Gegensatz zu der demokratischen Identitätsvorstellung. So sind die beiden Postulate nicht ohne weiteres gleich. Aus der großen Menge verschiedenartiger Ideen, die sich mit beiden Forderungen verbinden, soll hier nur das hervorgehoben werden, was notwendig ist, um das geistige Zentrum des modernen Parlamentarismus zu erkennen.
 
[Marginalie: 1. Öffentlichkeit]
 
Der Glaube an die öffentliche Meinung hat seine Wurzeln in einer Vorstellung, die in der umfangreichen Literatur über die öffentliche Meinung, auch in dem großen Werk von Tönnies, meistens nicht richtig betont wird: es kommt weniger auf die öffentliche Meinung als auf die Öffentlichkeit der Meinung an. Das wird klar, wenn man den geschichtlichen Gegensatz erkennt, aus dem die Forderung entstanden ist, nämlich die in zahlreichen Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts herrschende Theorie von den Staatsgeheimnissen, den "Arcana rei publicae". Diese Theorie einer großen Praxis beginnt mit der Literatur von der Staatsraison, der ratio Status, von der sie eigentlich der Kern ist; sie hat ihren literar­geschichtlichen Anfang bei Macchiavelli[wp] und in Paolo Sarpi ihren Höhepunkt. Für die systematische und methodische Behandlung, die ihr durch deutsche Gelehrte widerfuhr, sei das Buch von Arnold Clapmarius als Beispiel genannt.
Es ist im ganzen eine Lehre, die Staat und Politik nur als eine Technik der Machtbehauptung und Machterweiterung behandelt. Gegen ihren "Macchiavellismus" entstand eine große anti­macchiavellistische Literatur, die, unter dem Eindruck der Bartholomäusnacht (1572) einsetzend, gegen die Immoralität derartiger Maximen sich empört. [48]
Dem Machtideal einer politischen Technik werden jetzt die Begriffe von Recht und Gerechtigkeit entgegengehalten. So argumentieren besonders monarcho­machische Autoren gegen den fürstlichen Absolutismus.
Ideengeschichtlich ist die Kontroverse zunächst nur ein Beispiel des alten Kampfes von Macht und Recht: die macchiavellistische Machttechnik wird mit einem moralischen und rechtlichen Ethos bekämpft. Doch ist diese Charakterisierung nicht vollständig, weil sich allmählich spezifische Gegen­forderungen entwickeln: eben jene beiden Postulate der Öffentlichkeit und der Gewalten­balancierung. Diese sucht die im Absolutismus enthaltene Macht­konzentration durch ein System der Machtteilung aufzuheben; das Postulat der Öffentlichkeit hat seinen spezifischen Gegner in der Vorstellung, daß zu jeder Politik Arcana gehören, politisch-technische Geheimnisse, die in der Tat für den Absolutismus ebenso notwendig sind, wie Geschäfts- und Betriebs­geheimnisse für ein auf Privateigentum und Konkurrenz beruhendes Wirtschaftsleben.
Eine von wenigen Menschen hinter verschlossenen Türen betriebene Kabinettspolitik erscheint jetzt als etwas eo ipso Böses und die Öffentlichkeit des politischen Lebens infolgedessen als etwas schon seiner Öffentlichkeit wegen Richtiges und Gutes. Die Öffentlichkeit bekommt einen absoluten Wert, obwohl sie zunächst nur ein praktisches Mittel ist gegen die bureaukratisch-fachmännisch-technische Geheimpolitik des Absolutismus. Beseitigung von Geheimpolitik und Geheim­diplomatie wird das Allheilmittel gegen jede politische Krankheit und Korruption; die Öffentlichkeit wird das absolut wirksame Kontrollorgan. Allerdings gibt ihr erst die Aufklärung des 18. Jahrhunderts diesen absoluten Charakter. Das Licht der Öffentlichkeit ist das Licht der Aufklärung, die Befreiung von Aberglauben, Fanatismus und herrschsüchtiger Intrige. In jedem System eines aufgeklärten Despotismus spielt die öffentliche Meinung die Rolle des absoluten Korrektivs. Die Macht des Despoten darf um so größer sein, je mehr sich die Aufklärung verbreitet; denn die aufgeklärte öffentliche Meinung macht jeden Mißbrauch ganz von selbst unmöglich. Das versteht sich für alle Aufklärer von selbst. Le Mercier de la Rivière hat es systematisch ausgeführt; Condorcet hat praktische Schlüsse [49] daraus zu ziehen versucht, mit einem so enthusiastischen Glauben an Rede- und Preß­freiheit, daß es einen rühren kann, wenn man sich nach den Erfahrungen der letzten Generationen daran erinnert: wo Preß­freiheit herrscht, ist ein Mißbrauch der Macht undenkbar; eine einzige freie Zeitung wäre imstande, den mächtigsten Tyrannen zu beseitigen; die Buch­drucker­kunst ist die Grundlage der Freiheit, l'art createur de la liberté. Auch Kant war hier ein Ausdruck des politischen Glaubens seiner Zeit, des Glaubens an den Fortschritt der Publizität und die Fähigkeit des Publikums, unausbleiblich sich aufzuklären, wofern es nur die Freiheit hat, sich aufzuklären. In England ist es der Fanatiker liberaler Verständigkeit, J. Bentham, der (nachdem die Argumentation in England bisher wesentlich praktisch-zweck­mäßig gewesen war) die Bedeutung der Preßfreiheit aus einem liberalen System heraus proklamiert: Freiheit öffentlicher Diskussion, insbesondere Preß­freiheit, ist der wirksamste Schutz gegen politische Willkür, das "Controuling power", der eigentliche "Check to arbritrary power" usw.. Im weiteren Verlauf der Entwicklung tritt dann auch hier wieder der Gegensatz zur Demokratie hervor. J. St. Mill sah mit verzweifelter Besorgnis die Möglichkeit eines Gegensatzes von Demokratie und Freiheit, die Vernichtung der Minorität. Der bloße Gedanke, auch nur ein einziger Mensch könnte der Möglichkeit beraubt werden, seine Meinung zu äußern, versetzt den Positivisten in eine unerklärliche Unruhe, weil er sich sagt, daß dieser eine womöglich der Wahrheit am nächsten gekommen wäre.
Öffentlichkeit der Meinung, geschützt durch Redefreiheit, Preß- [50] freiheit, Versammlungs­freiheit und parlamentarische Immunitäten, bedeutet im liberalen System Freiheit der Meinung, in der ganzen folgen­reichen Bedeutung, die das Wort Freiheit in diesem System hat. Wo die Öffentlichkeit Zwang werden kann, wie bei der Ausübung des Wahlrechts durch den Einzelnen, an dem Punkt des Übergangs vom Privaten zum Öffentlichen, tritt daher die entgegen­gesetzte Forderung des Wahl­geheimnisses auf. Die Freiheit der Meinung ist eine Freiheit von Privatleuten; sie ist notwendig für die Konkurrenz der Meinungen, in der die beste Meinung siegt.
 
[Marginalie: 2. Teilung (Balancierung) der Gewalten]
 
Im modernen Parlamentarismus verbindet sich dieser Glaube an die öffentliche Meinung mit der zweiten mehr organisatorischen Vorstellung: Teilung oder Balancierung der verschiedenen Staats­tätigkeiten und Instanzen. Auch hier wirkt die Vorstellung einer gewissen Konkurrenz mit, aus der sich als Resultat das Richtige ergibt. Daß in der Teilung der Gewalten das Parlament die Rolle der Legislative bekommt, hierauf aber beschränkt ist, macht den Rationalismus, der dem Gedanken einer Balancierung zugrunde liegt, selbst wieder relativ und unterscheidet dieses System, wie gleich zu zeigen sein wird, von dem absoluten Rationalismus der Aufklärung. Über die allgemeine Bedeutung der Vorstellung von einer Balance braucht man nicht mehr viele Worte zu verlieren. Von den Bildern, die in der Geschichte politischen und staatsrechtlichen Denkens typisch wiederkehren und deren systematische Untersuchung noch nicht einmal begonnen ist (ich nenne als Beispiel nur: der Staat als Maschine, der Staat als Organismus, der König als Schlußstein des Gewölbes, als Fahne oder als "Seele" des Schiffes), ist sie für die moderne Zeit das Wichtigste. Seit dem 16. Jahrhundert herrschen auf allen Gebieten menschlichen Geisteslebens alle Arten von Balancen (W. Wilson hat wohl zuerst darauf hingewiesen in seinen Reden über die Freiheit): die Handelsbilanz in der Nationalökonomie, das europäische Gleichgewicht in der Außenpolitik, das kosmische Gleichgewicht von Attraktion und Repulsion, die Balance der Leidenschaften bei Malebranche und Shaftesbury, bis zur Nahrungsbalance des J. J. Moser. Für die Staatstheorie läßt sich die zentrale Bedeutung dieser universalen Vorstellung aus einigen Namen ohne weiteres entnehmen: Harrington, Locke[wp], Bolingbroke, Montesquieu[wp], Mably, de Lolme, der Federalist und die franzö- [51] sische Nationalversammlung von 1789. Um moderne Beispiele zu nennen: von Maurice Hauriou wird in seinen "Principes de droit public" die Vorstellung eines Gleichgewichts für jedes Problem staatlichen und administrativen Lebens herangezogen, und der große Erfolg von R. Redslobs Definition der parlamentarischen Regierung (1918) beweist, wie stark sie auch heute noch wirken kann.
Auf die Institution des Parlamentes angewandt, erhält diese allgemeine Vorstellung einen besonderen Inhalt. Das muß betont werden, weil sie auch bei Rousseau herrscht, nur eben nicht mit dieser besonderen Anwendung auf das Parlament. Hier, im Parlament, spielt sich nämlich eine Balancierung ab, welche den gemäßigten Rationalismus jener Balancen­vorstellungen voraussetzt. Unter dem suggestiven Einfluß einer Kompendien­tradition, die Montesquieus Lehre von der Gewaltenteilung vereinfacht, hat man sich daran gewöhnt, immer nur zu sehen, daß das Parlament als ein Teil der staatlichen Funktionen anderen Teilen (Exekutive und Justiz) entgegengesetzt wird. Das Parlament soll aber nicht nur ein Glied der Balance, sondern gerade weil es Legislative ist, in sich wieder balanciert sein. Das beruht auf einer Denkweise, die überall eine Vielheit schafft, um in einem System von Vermittlungen ein aus immanenter Dynamik sich ergebendes Gleichgewicht an die Stelle einer absoluten Einheit zu setzen. Erst dadurch, daß die Legislative selbst wieder in einem Zwei­kammer­system oder durch föderalistische Einrichtungen balanciert und mediiert wird; aber auch innerhalb einer Kammer wird infolge eines besonderen Rationalismus eine Balancierung von Ansichten und Meinungen in Funktion gesetzt. Eine Opposition gehört zum Wesen des Parlaments und jeder Kammer, und es gibt tatsächlich eine Metaphysik des Zwei­parteien­systems. Gewöhnlich wird zur Begründung der Gewalten­teilungs­lehre ein ziemlich banaler Satz angeführt, für den man meistens Locke zitiert: es wäre gefährlich, wenn die Behörde, welche die Gesetze erläßt, sie auch selbst ausführt; das wäre eine zu große Versuchung für die menschliche Machtgier; deshalb darf weder der Fürst als [52] Haupt der Exekutive noch das Parlament als Gesetz­gebungs­organ alle staatliche Macht in sich vereinigen. Die ersten Theorien von der Teilung und Balancierung der Gewalten sind allerdings aus den Erfahrungen entstanden, die man mit der Machtkonzentration beim Langen Parlament von 1640 gemacht hatte. Sobald aber eine allgemeine staats­theoretische Begründung einsetzt, entsteht, wenigstens auf dem Kontinent, eine konstitutionelle Theorie mit einem konstitutionellen Gesetzesbegriff. Von ihm aus ist die Institution des Parlaments als eines wesentlich legislativen Staatsorgans zu verstehen. Nur dieser Gesetzesbegriff begründet den heute wenig verstandenen, aber seit der Mitte des 18. Jahrhunderts das westeuropäische Denken absolut beherrschenden Satz, daß eine Verfassung identisch ist mit Gewaltenteilung. In Artikel 16 der Erklärung der Menschen- und Bürger­rechte von 1789 hat er seine berühmteste Proklamation gefunden: Toute société dans laquelle la garantie des droits n'est pas assurée, ni la séparation des pouvoirs determinée, n'a pas de constitution. Daß Teilung der Gewalten identisch ist mit Verfassung und ihren Begriff ausmacht, erscheint auch dem deutschen staatsphilosophischen Denken von Kant bis Hegel als etwas Selbstverständliches.
Diktatur ist infolgedessen auch für eine solche Denkweise nicht ein Gegensatz zur Demokratie, sondern wesentlich Aufhebung der Teilung der Gewalten, d. h. Aufhebung der Verfassung, d. h. Aufhebung der Unterscheidung von Legislative und Exekutive.
 
[Marginalie: Der Gesetzesbegriff des Parlamentarismus]
 
Der parlamentarische Gesetzesbegriff ist schon bei den Monarchomachen erkennbar. Im "Droit des Magistrats" des Beza heißt es: on doit juger non par exemples mais par loix. Die "Vindiciae" des Junius Brutus wenden sich gegen die "pestifera doctrina" des Macchiavelli[wp] nicht bloß mit einem Gerechtigkeitspathos, sondern auch einer bestimmten Art Rationalismus; sie wollen "Geometrarum more" vorgehen und setzen der konkreten Person des Rex das überpersönliche Regnum und die universale Ratio entgegen, die nach Aristotelisch-scholastischer Tradition das Wesen des Gesetzes ausmacht. Der König muß dem Gesetz gehorchen, wie der Körper der Seele gehorcht. Die allgemeine Maßgeblichkeit des Gesetzes ergibt sich daraus, daß das Gesetz [53] (im Gegensatz zum Willen oder Befehl einer konkreten Person) nur Ratio ist und keine cupiditas, keine turbatio hat, während der konkrete Mensch "variis affectibus perturbatur". In vielen Modifikationen, aber immer mit dem Wesensmerkmal des "Universalen", wird dieser Gesetzesbegriff die Grundlage konstitutionellen Denkens. Grotius bewahrt ihn in der scholastischen Form des Universalen, als des Gegensatzes zu den Singularia. Die ganze Lehre vom Rechtsstaat beruht auf dem Gegensatz eines generellen, vorher aufgestellten, Alle bindenden, ausnahmslos und prinzipiell für alle Zeiten geltenden Gesetzes zu einem von Fall zu Fall und mit Rücksicht auf besondere konkrete Verhältnisse ergehenden persönlichen Befehl. Otto Mayer hat in einer berühmten Darlegung von der "Unverbrüchlichkeit" des Gesetzes gesprochen. Diese Vorstellung vom Gesetz gründet sich auf jene rationalistische Unterscheidung des (jetzt nicht mehr Universellen, sondern) Generellen und des Singulären, und die Vertreter rechtsstaatlichen Denkens sehen ohne weiteres im Generellen an sich den höheren Wert. Bei Locke wird das besonders deutlich in der Form einer Gegenüberstellung von Law und Commission, die im Zentrum seiner Ausführungen steht, und der Klassiker der Philosophie des Rechtsstaats ist hierbei nur ein Beispiel für die ein Jahrhundert dauernde allgemeine Kontroverse über die Frage, ob das unpersönliche Gesetz oder der König persönlich Souverän sei. Auch "die Regierung der Vereinigten Staaten (von Amerika) ist mit besonderer Betonung als eine Regierung der Gesetze im Gegensatz zu einer Regierung der Menschen bezeichnet worden." Die heute übliche, auf Bodin zurückgehende Defi- [54] nition der Souveränität entstand aus der Erkenntnis, daß es mit Rücksicht auf die konkrete Sachlage immer von neuem notwendig wird, Ausnahmen von dem generell geltenden Gesetz zu machen und Souverän derjenige ist, der über die Ausnahme entscheidet.
Konstitutionelles und absolutistisches Denken haben also an dem Gesetzesbegriff ihren Prüfstein, aber natürlich nicht an dem, was man in Deutschland seit Laband Gesetz in formellem Sinne nennt und wonach alles, was unter Mitwirkung der Volksvertretung zustandekommt Gesetz heißt, sondern an einem nach logischen Merkmalen bestimmten Satz. Die entscheidende Distinktion bleibt immer, ob das Gesetz ein genereller, rationaler Satz ist oder Maßnahme, konkrete Einzelverfügung, Befehl.
Wenn gerade eine unter Beteiligung der Volksvertretung zustande gekommene Anordnung Gesetz heißt, so hat das seinen Sinn, weil die Volksvertretung, d. h. das Parlament, ihre Beschlüsse im Wege des Parlamentierens, durch Abwägung von Argument und Gegenargument findet und ihre Beschlüsse infolgedessen logisch einen anderen Charakter haben als ein nur auf Autorität sich gründender Befehl. In schneidender Antithetik ist das in der Definition des Gesetzes von Hobbes[wp] ausgesprochen: every man seeth, that some lawes are addressed to all the Subjects in generall, some to particular Provinces; some to particular Vocations; and some to particular Men. Dem Absolutisten scheint es selbstverständlich, "that Law is not Counsell, but Command", wesentlich Autorität und nicht, wie für den rationalistisch-rechts­staatlichen Gesetzesbegriff, Wahrheit und Richtigkeit. Autoritas, non Veritas facit Legem. Bolingbroke, der als Vertreter der Balancen­theorie rechtsstaatlich denkt, formuliert den Gegensatz als den von "Government by constitution" und "Government by will" und unterscheidet wieder zwischen Verfassung und Regierung (constitution und government) dahin, daß die Verfassung eine Regel enthalten soll, die immer, at all times, gilt, während Regierung das ist, was wirklich geschieht, at any time; das eine ist unabänder- [55] lich, das andere ändert sich mit Zeit und Umständen usw.. Die ganze im 17. und 18. Jahrhundert herrschende Lehre vom Gesetz als der volonté générale (welcher Wille als solcher wegen seines generellen Charakters und im Gegensatz zu jeder volonté particulière für wertvoll gehalten wird) ist als Äußerung dieses rechts­staatlichen Gesetzes­begriffes zu verstehen. Condorcet ist auch hier der typische Vertreter des aufgeklärten Radikalismus, für den alles Konkrete nur ein Anwendungsfall eines generellen Gesetzes ist. Alle Tätigkeit, das ganze Leben des Staates, erschöpft sich bei ihm in Gesetz und Anwendung des Gesetzes; auch die Exekutive hat nur die Funktion, "de faire un syllogisme dont la loi est la majeure; un fait plus ou moins générale la mineure; et la conclusion l'application de la loi". Nicht nur die Justiz ist, wie es in dem bekannten Wort von Montesquieu heißt, "la bouche qui prononce les paroles de la loi", sondern auch die Verwaltung. Im Entwurf der girondistischen Verfassung von 1793 sollte das in der Bestimmung festgelegt werden: "Les caractères qui distinguent les lois sont leur généralite et leur durée infinie." Auch die Exekutive will er dahin bringen, daß sie nicht mehr befiehlt, sondern räsoniert. "Les agents exécutifs n'ordonnent pas, ils raisonnent." Als letztes Beispiel für den zentralen, systematischen Gegensatz sei Hegels Äußerung über die rechtliche Natur des Budget­gesetzes zitiert: das sogenannte Finanzgesetz ist trotz der Mitwirkung der Stände wesentlich eine Regierungs­angelegenheit, es heißt nur uneigentlich deshalb Gesetz, weil es den weiten, ja den ganzen Umfang der äußeren Mittel der Regierung umfaßt. "Ein für ein Jahr und jährlich zu gebendes Gesetz leuchtet auch dem gemeinen Menschensinn als unangemessen ein, als welcher das an und für [56] sich Allgemeine als Inhalt eines wahrhaften Gesetzes von einer bloßen Reflexions­allgemeinheit, die nur äußerlich ein seiner Natur nach Vieles umfaßt, unterscheidet."
 
[Marginalie: Beschränkung des Parlaments auf Gesetzgebung]
 
Das Gesetz, Veritas im Gegensatz zu bloßer Auctoritas, und die generelle richtige Norm im Gegensatz zu dem bloß wirklichen konkreten Befehl, welcher, wie Zitelmann in glänzender Formulierung ausgeführt hat, als Imperativ immer ein individuelles, unübertragbares Moment enthält, werden als etwas Intellektualistisches aufgefaßt zum Unterschied von der Exekutive, die wesentlich Handeln ist. Gesetzgebung ist deliberare, Exekutive agere. Auch dieser Gegensatz hat seine Geschichte, die mit Aristoteles beginnt, im Rationalismus der französischen Aufklärung die Legislative auf Kosten der Exekutive hervorhebt und für die Exekutive eine prägnante Formel gefunden hat in der Bestimmung der Verfassung vom 5. Fructidor III (Titel IX 275): nul corps armé ne peut délibérer. Am wenigsten doktrinär erklärt es der Federalist (1788): Die Exekutive muß in der Hand eines einzigen Mannes liegen, weil ihre Energie und Aktivität davon abhängt; es ist ein allgemeines, von den besten Politikern und Staatsmännern anerkanntes Prinzip, daß Gesetzgebung Deliberation ist und deshalb von einer größeren Versammlung wahrgenommen werden muß, während zur Exekutive Dezision und Wahrung der Staats­geheimnisse gehören, Dinge, "die in demselben Maße abnehmen, wie die Zahl zunimmt". Dafür werden einige geschichtliche Beispiele beigebracht; dann heißt es weiter: Lassen wir jedoch die Unsicherheiten und Unklarheiten geschichtlicher Betrachtungen und halten wir uns einzig an das, was Verstand und gesundes Urteil uns sagen; die Garantien bürgerlicher Freiheit kann man wohl bei der Legislative, nicht bei der Exekutive konsequent durchführen; in der Legislative verhindern die Gegensätze der Meinungen und Parteien vielleicht manchen heilsamen und richtigen Beschluß, dafür hemmt aber die Argumentation der Minderheit Ausschreitungen der Mehrheit, abweichende Meinungen sind hier nützlich und notwendig; anders in der Exekutive, wo es, namentlich im Krieg und während [57] eines Aufruhrs, auf energisches Handeln ankommt, und dazu gehört die Einheit der Dezision.
An dieser verständigen Erwägung des Federalist tritt am deutlichsten hervor, wie wenig in der Balancentheorie daran gedacht war, den für Legislative und Parlament maßgebenden Rationalismus auf die Exekutive auszudehnen und auch sie in Diskussion aufzulösen. Der Rationalismus dieses Denkens weiß eben auch zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen (wenn man das einer rationalen Diskussion nicht Zugängliche so nennen will) eine Balance zu halten, ist auch hier Vermittlung und in gewissem Sinne Kompromiß, so wie der Deismus als ein metaphysisches Kompromiß aufgefaßt werden kann. Dagegen hob der absolute Rationalismus Condorcets die Teilung der Gewalten auf und vernichtete sowohl die in ihr liegende Vermittlung und Mediierung der Staatsgewalt, als auch die Selbständigkeit von Parteien, Seinem Radikalismus erscheint die komplizierte Balancierung der amerikanischen Verfassungen subtil und schwerfällig, eine Konzession an die Besonderheiten jedes Landes, eins von den Systemen, "où l'on veut forcer les lois et par conséquent la vérité, la raison, la justice", und wo man für die Vorurteile und Torheiten der [58] einzelnen Völker die allgemein menschliche "legislation raisonnable" opfert. Ein solcher Rationalismus führte zur Aufhebung der Balance, zur Diktatur der Vernunft. Gemeinsam ist beiden die Identifikation von Gesetz und Wahrheit; aber der relative Rationalismus der Balancen­theorie beschränkt sich auf Legislative und Parlament, konsequenterweise innerhalb des Parlamentes wieder auf eine nur relative Wahrheit. Eine durch den Gegensatz der Parteien bewirkte Balancierung der Meinungen kann sich infolgedessen niemals auf absolute Fragen der Weltanschauung erstrecken, sondern nur Dinge betreffen, die ihrer relativen Natur nach für einen derartigen Prozeß geeignet sind. Kontradiktorische Gegensätze heben den Parlamentarismus auf, und seine Diskussion setzt eine gemeinsame, nichtdiskutierte Grundlage voraus. Weder die Staatsgewalt noch irgendeine metaphysische Überzeugung darf in unmittelbarer Apodiktizität auftreten; alles muß in dem absichtlich komplizierten Prozeß der Balancierung vermittelt werden. Das Parlament aber ist der Platz, wo man deliberiert, d. h. in einem diskursiven Vorgang, durch die Erörterung von Argument und Gegenargument, die relative Wahrheit gewinnt. Wie für den Staat eine Mehrheit der Gewalten notwendig ist, so braucht jede parlamentarische Körperschaft eine Mehrzahl von Parteien.
Im deutschen Liberalismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbinden sich diese Ideen bereits mit geschichtlichem Denken. Doch konnte die Balancentheorie in ihrer alles vermittelnden Elastizität auch geschichtliches Denken ihrem System einfügen. Es ist von großem Interesse, wie im deutschen Liberalismus des 19. Jahrhunderts die mechanische Vorstellung von der Balance sich in eigenartiger Weise zu einer Lehre von einer organischen Vermittlung entwickelt und deshalb auch immer die Möglichkeit hat, die überragende, die Einheit des Staates repräsentierende Person des Fürsten gelten zu lassen. Während in der deutschen Romantik die liberale Diskussion zum ewigen Gespräch wird, ist sie im philosophischen System Hegels die Selbstentwicklung des Bewußtseins aus Positionen und Negationen zu immer neuen Synthesen. Die ständische, auf nur beratende Mitwirkung beschränkte Vertretung des Volkes hat bei Hegel die Bestimmung, "daß das öffentliche Bewußtsein als empirische Allgemeinheit der Ansichten [59] und Gedanken der Vielen darin zur Existenz komme"; die Stände sind ein vermittelndes Organ zwischen der Regierung und dem Volk, sie haben nur eine Mitwirkung bei der Gesetzgebung; durch die Öffentlichkeit ihrer Verhandlungen erhält das "Moment der allgemeinen Kenntnis seine Ausdehnung", durch die "Eröffnung dieser Gelegenheit von Kenntnissen kommt die öffentliche Meinung erst zu wahrhaften Gedanken und zur Einsicht in den Zustand und Begriff des Staates und dessen Angelegenheiten und damit erst zu einer Fähigkeit, darüber vernünftiger zu urteilen". So ist diese Art Parlamentarismus "ein Bildungsmittel, und zwar eines der größten". Über den Wert der Öffentlichkeit und der öffentlichen Meinung macht Hegel die sehr charakteristischen Ausführungen: "Die Öffentlichkeit der Ständeversammlung ist ein großes, die Bürger vorzüglich bildendes Schauspiel, und das Volk lernt daran am meisten das Wahrhafte seiner Interessen kennen"; die Öffentlichkeit ist "das größte Bildungsmittel für Staatsinteressen überhaupt". Dadurch entsteht erst die Lebendigkeit staatlichen Interesses und eine öffentliche Meinung, die nach Hegel die "unorganische Weise" ist, "wie sich das, was ein Volk will und meint, zu erkennen gibt". In der Parteienlehre des deutschen Liberalismus zeigt sich ebenfalls die Verbindung mit Vorstellungen organischen Lebens. Man unterscheidet zwischen Parteien und Fraktionen; diese sind das Zerrbild der Partei, während die wahren Parteien der Ausdruck "lebendigen und mehrseitigen Anteils am öffentlichen Wesen" sind und durch eine "lebendige Durchkämpfung für die richtige Erledigung von Staatsfragen sorgen". Bluntschli, der F. Rohmers Parteienlehre übernimmt, sagt, daß eine Partei nicht ohne eine Gegenpartei bestehen kann, daß nur der Fürst und die Beamten (diese wenigstens als solche, nicht als Privatpersonen) keiner Partei angehören dürfen, weil der Staat und seine Organe über den Parteien stehen. "Das Staatsrecht weiß nichts von Parteien; die ruhige, feste Staatsordnung ist die gemeinsame feste Ordnung für alle, welche das Parteigetriebe und [60] die Parteikämpfe beschränkt ... Erst wenn die Bewegung des neuen freien Lebens, also die Politik, beginnt, treten die Parteien hervor." Die Parteien sind für ihn (nach Rohmer) Analogien der verschiedenen Lebensalter. Auch bei ihm herrscht noch die Vorstellung, der Lorenz von Stein eine klassische Darstellung gegeben hat, daß zum Leben des Staates wie zu jedem Leben eine Fülle von Widersprüchen gehört und diese erst die Dynamik wirklichen Lebendigseins ausmachen. Hier hat der liberale Gedanke sich mit einem spezifisch deutschen "organischen" Denken vereinigt und die mechanistische Vorstellung der Balance überwunden.
Doch konnte man auch mit Hilfe dieses organischen Denkens die Idee des Parlamentarismus noch halten. Kritisch wurde ihre Situation mit der Forderung einer parlamentarischen Regierung, wie sie Mohl vertreten hat, weil der Gesichtspunkt des dialektisch - dynamischen Prozesses der Diskussion sich wohl auf die Legislative, aber kaum auf die Exekutive übertragen läßt und nur das allgemeine Gesetz, nicht der konkrete Befehl, eine Wahrheit und Gerechtigkeit sein kann, die durch balancierende Vermittlung und öffentliche Diskussion gewonnen wird. In Einzelheiten bleibt in den Schlußfolgerungen die alte Vorstellung vom Parlament gewahrt, ohne daß man sich ihres systematischen Zusammenhanges noch recht bewußt wäre. Bluntschli führte z. B. als ein wesentliches Merkmal des modernen Parlamentes auf, daß es nicht, wie die alte ständische Vertretung, seine Geschäfte durch Ausschüsse erledigen dürfe. Das ist [61] durchaus richtig; nur ergibt sich die Begründung aus den ihm schon nicht mehr gegenwärtigen Prinzipien der Öffentlichkeit und der Diskussion. -
 
[Marginalie: Allgemeine Bedeutung des Glaubens an die Diskussion]
 
Es sind die beiden Prinzipien, auf denen in einem überaus konsequenten und umfassenden System konstitutionelles Denken und Parlamentarismus beruhen. Dem Gerechtigkeitsgefühl einer ganzen Epoche erschienen sie wesentlich und unumgänglich. Was die durch Öffentlichkeit und Diskussion garantierte Balance eigentlich bewirken sollte, war nicht weniger als Wahrheit und Gerechtigkeit selbst. Durch Öffentlichkeit und Diskussion allein glaubte man die bloß tatsächliche Macht und Gewalt - für liberal-rechtsstaatliches Denken das an sich Böse, the way of beasts, wie Locke sagt - überwinden und den Sieg des Rechts über die Macht herbeiführen zu können. Es gibt ein überaus kennzeichnendes Wort für diese Denkweise: la discussion substituée à la force. In dieser Formulierung stammt es von einem keineswegs genialen, nicht einmal bedeutenden, aber vielleicht auch darin typischen Anhänger des Bürgerkönigtums, der auch die Schlußkette des ganzen konstitutionellen und parlamentarischen Glaubens formuliert hat: Aller Fortschritt, auch der soziale Fortschritt, verwirklicht sich "par les institutions représentatives, c'est-à-dire par la liberté régulière - par des discussions publiques, c'est à-dire par la raison". [62]
Die Wirklichkeit des parlamentarischen und parteipolitischen Lebens und die allgemeine Überzeugung sind heute von solchem Glauben weit entfernt. Große politische und wirtschaftliche Entscheidungen, in denen heute das Schicksal der Menschen liegt, sind nicht mehr (wenn sie es jemals gewesen sein sollten) das Ergebnis einer Balancierung der Meinungen in öffentlicher Rede und Gegenrede und nicht das Resultat parlamentarischer Debatten. Die Beteiligung der Volksvertretung an der Regierung, die parlamentarische Regierung, hat sich gerade als das wichtigste Mittel erwiesen, die Teilung der Gewalten und mit ihr die alte Idee des Parlamentarismus aufzuheben. Natürlich, wie die Dinge heute tatsächlich liegen, ist es praktisch ganz unmöglich, anders als mit Ausschüssen und immer engeren Ausschüssen zu arbeiten und schließlich überhaupt das Plenum des Parlaments, d. h. seine Öffentlichkeit, seinem Zweck zu entfremden und dadurch notwendig zu einer Fassade zu machen. Es mag sein, daß es praktisch nicht anders geht. Aber man muß dann wenigstens so viel Bewußtsein der geschichtlichen Situation haben, um zu sehen, daß der Parlamentarismus dadurch seine geistige Basis aufgibt und das ganze System von Rede-, Versammlungs- und Preßfreiheit, öffentlichen Sitzungen, parlamentarischen Immunitäten und Privilegien seine ratio verliert. Engere und engste Ausschüsse von Parteien oder von Parteikoalitionen beschließen hinter verschlossenen Türen, und was die Vertreter großkapitalistischer Interessenverbände im engsten Komitee abmachen, ist für das tägliche Leben und Schicksal von Millionen Menschen vielleicht noch wichtiger als jene politischen Entscheidungen. Im Kampf gegen die Geheimpolitik absoluter Fürsten ist der Gedanke des modernen Parlamentarismus, die Forderung einer Kontrolle und der Glaube an Öffentlichkeit und Publizität entstanden; das Freiheits- und Gerechtigkeits­gefühl der Menschen empörte sich gegen eine Arkanpraxis, die in geheimen Beschlüssen über das Schicksal [63] der Völker entschied. Aber wie harmlos und idyllisch sind die Objekte jener Kabinettspolitik des 17. und 18. Jahrhunderts neben den Schicksalen, um die es sich heute handelt und die heute der Gegenstand aller Arten von Geheimnissen sind. Vor dieser Tatsache mußte der Glaube an die diskutierende Öffentlichkeit eine furchtbare Desillusion erfahren. Es gibt heute sicher nicht viele Menschen, die auf die alten liberalen Freiheiten, insbesondere auf Rede- und Preß­freiheit verzichten wollen. Auf dem europäischen Kontinent werden trotzdem nicht mehr viele sein, die glauben, jene Freiheiten existieren noch, wo sie den Inhabern der wirklichen Macht wirklich gefährlich werden könnten. Am wenigsten wird es noch den Glauben geben, daß aus Zeitungs­artikeln, Versammlungs­reden und Parlaments­debatten die wahre und richtige Gesetzgebung und Politik entstehe. Das ist aber der Glaube an das Parlament selbst. Sind Öffentlichkeit und Diskussion in der tatsächlichen Wirklichkeit des parlamentarischen Betriebes zu einer leeren und nichtigen Formalität geworden, so hat auch das Parlament, wie es sich im 19. Jahrhundert entwickelt hat, seine bisherige Grundlage und seinen Sinn verloren.

III. Die Diktatur im marxistischen Denken

Auf dem europäischen Kontinent hatte der konstitutionelle Parlamentarismus sein klassisches Zeitalter im Bürgerkönigtum von Louis Philippe und seinen klassischen Repräsentanten in Guizot. Die alte Monarchie und Aristokratie waren für ihn überwunden, die herannnahende Demokratie erschien als ein chaotischer Strom, gegen den man einen Damm bauen mußte. Zwischen Monarchie und Demokratie schwebte als richtige Mitte das konstitutionell-parlamentarische Bürgerkönigtum. Alle sozialen Fragen sollten in verständiger öffentlicher Debatte durch das Parlament gelöst werden; das Wort "juste-milieu" kam aus dem innersten Kern dieses Denkens, und ein Begriff wie Bürgerkönigtum enthält schon in seinem Wort eine ganze Welt von juste-milieu und prinzipiellem Kompromiß. Gegenüber diesem parlamentarischen Konstitutionalismus, nicht gegenüber der Demokratie, wird der den Parlamentarismus aufhebende Begriff der Diktatur wieder aktuell. [64] Das kritische Jahr 1848 war ein Jahr der Demokratie und der Diktatur zu gleicher Zeit. Beides stand im Gegensatz zum bürgerlichen Liberalismus des parlamentarischen Denkens.
Diskutierend, balancierend, prinzipiell vermittelnd hielt sich dieses Denken zwischen zwei Gegnern, die ihm beide mit solcher Energie entgegentraten, daß die vermittelnde Diskussion nur wie ein Interim zwischen blutigen Entscheidungs­kämpfen erschien. Beide Gegner antworteten mit einer Aufhebung der Balance, mit Unmittelbarkeit und Apodiktizität, d. h. mit Diktatur. Es gibt, in groben Stichworten provisorisch charakterisiert, eine Apodiktizität des Rationalismus und eine andere des Irrationalen. Für die aus einem unmittelbaren, seiner selbst absolut gewissen Rationalismus geborene Diktatur lag bereits eine Tradition vor: die Erziehungsdiktatur der Aufklärung, der philosophische Jakobinismus, die Zwingherrschaft des Verstandes, eine aus rationalistischem und klassizistischem Geist entspringende formale Einheit, das "Bündnis der Philosophie mit dem Säbel". Durch die Niederlage Napoleons schien das erledigt zu sein und durch den neuerwachenden historischen Sinn auch theoretisch und moralisch überwunden. Aber in geschichts­philosophischer Form bestand die Möglichkeit einer rationalistischen Diktatur weiter und war als politische Idee lebendig. Ihr Träger war der radikale Marxistische Sozialismus, dessen letzte metaphysische Evidenz sich auf dem Boden von Hegels Geschichtslogik aufbaut.
Daß der Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft überging, bedeutet nicht, daß er auf die Diktatur verzichtete. Es ist ein bemerkenswertes Symptom, daß seit dem Weltkrieg einige radikale Sozialisten und Anarchisten glaubten, zur Utopie zurückkehren zu müssen, um dem Sozialismus den Mut zur Diktatur zu retten. Das zeigt, wie sehr die Wissenschaft aufgehört hat, für die heutige Generation die evidente Grundlage sozialen Handelns zu sein. Aber es beweist nicht, daß im wissenschaftlichen Sozialis- [65] mus die Möglichkeit einer Diktatur fehlt. Nur muß das Wort Wissenschaft richtig verstanden und nicht auf eine bloß exakt­natur­wissen­schaftliche Technizität beschränkt werden. Diese naturwissenschaftliche Wissenschaftlichkeit kann allerdings keine Grundlage für eine Diktatur sein, so wenig wie für irgendeine andere politische Institution oder politische Herrschaft. Der Rationalismus des wissenschaftlichen Sozialismus geht viel weiter als eine Naturwissenschaft zu gehen vermag. In ihm hat der rationalistische Glaube der Aufklärung sich noch ungeheuer überboten und einen neuen, beinahe phantastischen Anlauf genommen, der, wenn er seine alte Energie hätte bewahren können, sich an Intensität wohl mit dem Rationalismus der Aufklärung messen durfte.
 
[Marginalie: Die Wissenschaftlichkeit des Marxismus ist Metaphysik]
 
Erst als er sich wissenschaftlich wußte, glaubte der Sozialismus die Garantie einer im wesentlichen untrüglichen Einsicht zu haben des Marxismus und konnte er sich ein Recht auf Gewaltanwendung zusprechen. Geschichtlich tritt das Bewußtsein der Wissenschaftlichkeit seit 1848 auf, das heißt, seitdem der Sozialismus eine politische Größe wurde, die hoffen konnte, ihre Ideen eines Tages zu verwirklichen. In dieser Art Wissenschaftlichkeit verbinden sich daher praktische und theoretische Vorstellungen. Oft soll wissenschaftlicher Sozialismus nur etwas Negatives bedeuten, die Ablehnung der Utopie, und soll nur besagen, daß man entschlossen ist, nunmehr bewußt in die politische und soziale Wirklichkeit einzugreifen und sie, statt von außen nach Phantasien und erdichteten Idealen, nach ihren eigenen, richtig erkannten, immanenten Bedingungen zu gestalten. Es kommt hier darauf an, von den vielen Seiten und Möglichkeiten des Sozialismus sein letztes, im geistigen Sinne entscheidendes Argument zu suchen, die letzte Evidenz sozialistischen Glaubens. Der überzeugte Marxismus ist sich bewußt, die richtige Erkenntnis sozialen, ökonomischen und politischen Lebens und eine daraus sich ergebende richtige Praxis gefunden zu haben, das soziale Leben objektiv in allen seinen sachlichen Notwendigkeiten aus seiner Immanenz richtig zu erfassen und dadurch zu beherrschen. Weil nun bei Marx wie bei Engels und wohl bei jedem eines intellektuellen Fanatismus fähigen Marxisten das Bewußtsein der Eigenart geschichtlicher Entwicklung lebendig ist, kann man ihre Wissenschaftlichkeit nicht den [66] zahlreichen Versuchen gleichsetzen, naturwissenschaftliche Methode und Exaktheit auf Probleme der Sozialphilosophie und der Politik zu übertragen. Zwar schreibt der populäre Marxismus gern von der naturwissenschaftlichen Exaktheit seines Denkens, von der "eisernen Notwendigkeit", mit der die Dinge kraft historisch-materialistischer Gesetze kommen, und viele bürgerliche Sozialphilosophen haben sich damit beschäftigt, das zu widerlegen und umständlich darzutun, daß man geschichtliche Dinge nicht so berechnen kann, wie die Astronomie den Lauf der Gestirne berechnet, und daß es jedenfalls - die "eiserne Notwendigkeit" zugegeben - sonderbar wäre, eine Partei zwecks Herbeiführung der kommenden Sonnenfinsternis zu organisieren. Aber der Rationalismus Marxistischen Denkens hat noch eine andere, für den Begriff der Diktatur wichtige Seite und erschöpft sich nicht in einer Wissenschaftlichkeit, die mit Hilfe von Naturgesetzen und streng deterministischer Weltanschauung eine Methode gewinnen will, um die Naturgesetzlichkeit zum Vorteil des Menschen zu benutzen, etwa so, wie mit jeder exakten Naturwissenschaftlichkeit eine Technik verbunden ist. Wenn darin das Wissenschaftliche des Sozialismus läge, so wäre der Sprung ins Reich der Freiheit nur ein Sprung ins Reich absoluter Technizität. Es wäre der alte Rationalismus der Aufklärung und einer der seit dem 18. Jahrhundert beliebten Versuche, eine Politik von mathematischer und physikalischer Exaktheit zu gewinnen, mit dem einzigen Unterschied, daß der starke Moralismus, der im 18. Jahrhundert noch herrschte, theoretisch aufgegeben wäre. Das Resultat müßte, wie bei jedem Rationalismus, eine Diktatur der führenden Rationalisten sein. Gerade das philosophisch-metaphysisch Faszinierende der Marxistischen Geschichts­philosophie und Soziologie liegt aber nicht in der Naturwissenschaftlichkeit, sondern in der Art und Weise, wie Marx den Gedanken der dialektischen Entwicklung der Menschheitsgeschichte beibehält und diese als einen konkreten, einmaligen, durch immanente organische Kraft sich aus sich selbst produzierenden antithetischen Prozeß betrachtet. Daß er die Entwicklung ins Ökonomisch-Technische verlegt, ändert nichts an der Struktur seines Denkens und ist nur eine Transponierung, die verschieden erklärt werden kann: psychologisch aus einer Intuition [67] für die politische Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren, systematisch aus dem Bestreben, die in der Technik sich äußernde menschliche Aktivität zum freien Herrn des geschichtlichen Geschehens, zum Herrn über die Irrationalität des Schicksals zu machen. Nur dialektisch aber ist der "Sprung in das Reich der Freiheit" zu verstehen. Mit Hilfe der Technik allein könnte er nicht unternommen werden. Sonst müßte man doch vom Marxistischen Sozialismus verlangen, daß er statt politischer Aktionen besser eine neue Maschine erfände, und es wäre bedenklich, daß auch in der kommunistischen Gesellschaft der Zukunft neue technische und chemische Erfindungen gemacht würden, die dann wiederum die Grundlage dieser kommunistischen Gesellschaft ändern und eine Revolution notwendig machen könnten, wie es überhaupt eigentlich sonderbar ist, einmal anzunehmen, die Zukunfts­gesellschaft müsse die technische Entwicklung ungeheuer fördern und beschleunigen und andererseits doch vor jeder Gefahr einer Neubildung von Klassen dauernd geschützt sein. Alle diese Einwände sind sehr plausibel, ohne aber den Kern jenes Denkens zu treffen. Nach Marxistischem Glauben wird die Menschheit sich ihrer selbst bewußt werden, und zwar durch eine richtige Erkenntnis der sozialen Wirklichkeit. Dadurch gewinnt das Bewußtsein einen absoluten Charakter. Es handelt sich also hier um einen Rationalismus, welcher die Hegelianische Evolution in sich umfaßt und in seiner Konkretheit eine Evidenz hat, deren der abstrakte Rationalismus der Aufklärung nicht fähig war. Die Marxistische Wissenschaftlichkeit will den kommenden Dingen nicht die mechanische Sicherheit eines mechanisch berechneten und mechanisch gemachten Erfolges geben, sondern läßt sie im Strom der Zeit und in der konkreten Wirklichkeit des sich aus sich selbst produzierenden geschichtlichen Geschehens.
Das Verständnis für die konkrete Geschichtlichkeit war ein Gewinn, den Marx niemals aufgegeben hat. Aber der Rationalismus Hegels hatte den Mut, auch die Geschichte selbst zu konstruieren. Für einen aktiven Menschen konnte es dann kein anderes Interesse mehr geben, als die gegenwärtige Epoche und den gegenwärtigen Moment unbedingt sicher zu erfassen. Mit Hilfe einer dialektischen Geschichtskonstruktion war das wissenschaftlich mög- [68] lich. Die Wissenschaftlichkeit des Marxistischen Sozialismus beruht also auf dem Prinzip der Hegelschen Geschichts­philosophie. Nicht um zu zeigen, daß Marx von Hegel abhängig ist und um die hierüber angestellten Erörterungen zu vermehren, sondern um den Kern Marxistischer Argumentation und ihren spezifischen Begriff der Diktatur zu bestimmen, muß von dem Zusammenhang mit Hegels Geschichtsdialektik davon ausgegangen werden. Es wird sich ergeben, daß hier eine bestimmte Art metaphysischer Evidenz vorliegt, die zu bestimmten soziologischen Konstruktionen und zu einer rationalistischen Diktatur führt.
 
[Marginalie: Diktatur und dialektische Entwicklung]
 
Zwar besteht eine Schwierigkeit, dialektische Entwicklung und Diktatur miteinander zu verbinden. Denn die Diktatur scheint eine Unterbrechung der kontinuierlichen Reihenfolge der Entwicklung zu sein, ein mechanischer Eingriff in die organische Evolution. Entwicklung und Diktatur schließen sich anscheinend gegenseitig aus. Der unendliche Prozeß des dialektisch in Gegensätzen sich entwickelnden Weltgeistes mußte auch seinen eigenen Gegensatz, die Diktatur, in sich einbeziehen und ihr dadurch ihr Wesen, die Entscheidung, nehmen. Die Entwicklung geht ununterbrochen weiter, auch Unterbrechungen müssen ihr als Negationen dienen, um sie weiterzuführen. Das Wesentliche ist, daß niemals von außen her, außerhalb der Immanenz der Entwicklung, eine Ausnahme eintritt. Von Diktatur in dem Sinne einer die Entwicklung wie die Diskussion unterbrechenden moralischen Entscheidung kann allerdings in Hegels Philosophie nicht die Rede sein. Auch die entgegengesetzten Dinge durchdringen sich und werden der übergreifenden Entwicklung einverleibt. Das Entweder-Oder der moralischen Entscheidung, die entschiedene und entscheidende Disjunktion, hat in diesem System keine Stelle. Auch das Diktat des Diktators wird ein Moment in der Diskussion und in der unbeirrt weitergehenden Entwicklung. Wie alles andere, wird eben auch das Diktat in der Peristaltik dieses Weltgeistes assimiliert. Hegels Philosophie hat keine Ethik, die eine absolute Trennung von Gut und Böse begründen könnte. Gut ist für sie, was im jeweiligen Stadium des dialektischen Prozesses das Vernünftige und damit das Wirkliche ist. Gut ist (ich übernehme hier eine treffende Formulierung von Chr. Janentzky) "das [69] Zeitgemäße" im Sinne richtiger dialektischer Erkenntnis und Bewußtheit. Wenn die Weltgeschichte das Weltgericht ist, so ist sie ein Prozeß ohne letzte Instanz und ohne definitives disjunktives Urteil. Das Böse ist unwirklich und nur insoweit denkbar, als etwas Unzeitgemäßes denkbar ist, also vielleicht erklärlich als eine falsche Abstraktion des Verstandes, eine vorübergehende Verwirrung einer in sich selbst beschränkten Partikularität. In diesem, theoretisch wenigstens, kleinen Spielraum, d. h. nur zur Beseitigung des Unzeitgemäßen, zur Beseitigung des falschen Scheines, wäre eine Diktatur möglich. Sie wäre etwas Nebensächliches und Beiläufiges; nicht die wesentliche Negation eines Wesentlichen, sondern Erledigung eines belanglosen Abfalles. Anders als nach der rationalistischen Philosophie Fichtes wird hier eine Zwingherrschaft abgelehnt. Gegen Fichte sagt Hegel, daß es eine gewaltsame Abstraktion wäre, von der Welt anzunehmen, sie sei von Gott verlassen und warte darauf, daß wir einen Zweck in sie hineinbringen und sie nach einem abstrakten "wie es sein soll" aufbauen. Das Sollen ist ohnmächtig. Was berechtigt ist, macht sich auch geltend, und was nur sein soll, ohne zu sein, ist nicht wahr und eine subjektive Meisterung des Lebens. Der wichtigste Schritt, den das 19. Jahrhundert über den Rationalismus des 18. hinausgetan hat, liegt in diesem Gegensatz von Hegel und Fichte. Eine Diktatur ist nicht mehr möglich, weil die Absolutheit der moralischen Disjunktion sich auflöst. Dennoch bleibt Hegels Philosophie nur eine konsequente Fortführung und Steigerung des alten Rationalismus. Erst die bewußte menschliche Tat macht den Menschen zu dem, was er ist, und treibt ihn aus der natürlichen Endlichkeit des "An-sich-Seins" auf die höhere Stufe des "Für-sich"; was er nach seiner Anlage ist, muß er bewußt werden, um nicht in den Zufälligkeiten und Eigenwilligkeiten des Empirischen zu verharren, damit nicht der unaufhaltsame Schwung des weltgeschichtlichen Geschehens über ihn hinweggeht. Solange diese Philosophie in der Kontemplation bleibt, hat sie allerdings keinen Raum für eine Diktatur. Das ändert sich, sobald sie von aktiven Menschen ernst genommen wird. In der konkreten politischen und soziologischen Praxis werden die Menschen, die eine höhere Bewußtheit haben und sich [70] als die Träger jenes großen Schwunges fühlen, über den Widerstand der Beschränktheit hinweggehen und das "sachlich Notwendige" durchsetzen. Ihr Wille wird auch hier den Unfreien zur Freiheit zwingen. Das ist in der konkreten Wirklichkeit eine Erziehungsdiktatur, nur muß, wenn die Weltgeschichte immer weitergehen soll, die gewaltsame Beseitigung des Sachwidrigen fortwährend notwendig, die Diktatur also permanent werden. Auch hier zeigt sich, daß die allgemeine Doppelseitigkeit, die nach Hegels Philosophie in allem Geschehen liegt, vor allem in ihr selber steckt: ihr Entwicklungsbegriff kann die Diktatur ebensogut aufheben wie in Permanenz erklären. Für die Aktivität des Menschen bleibt immer die Argumentation, daß die höhere Stufe bewußt über die niedere eine Herrschaft ausüben darf und muß, und das kommt im politischpraktischen Resultat der rationalistischen Erziehungsdiktatur gleich. Auch der Hegelianismus vernichtet dabei, wie jedes rationalistische System, den Einzelnen als etwas Zufälliges und Wesenloses und erhebt systematisch das Ganze zum Absoluten.
Der Weltgeist faßt sich auf der jeweiligen Stufe seiner Bewußtheit zunächst immer nur in wenigen Köpfen. Das Gesamtbewußtsein der Epoche tritt nicht mit einem Schlag bei allen Menschen und auch nicht bei allen Mitgliedern des führenden Volkes oder der führenden sozialen Gruppe auf. Immer wird es einen Vortrupp des Weltgeistes geben, eine Spitze der Entwicklung und der Bewußtheit, eine Avantgarde, die das Recht zur Tat hat, weil sie die richtige Erkenntnis und Bewußtheit hat - nicht als Auserwählte eines persönlichen Gottes, aber als Moment in der Entwicklung, aus deren Immanenz sie keineswegs heraustreten will, oder, nach dem vulgären Bilde, als Geburtshelfer der kommenden Dinge. Die welthistorische Persönlichkeit - Theseus, Cäsar, Napoleon - ist ein Instrument des Weltgeistes; ihr Diktat beruht darauf, daß sie im historischen Moment steht. Die Weltseele, die Hegel damals 1806 in Jena reiten sah, war ein Soldat und kein Hegelianer; sie war ein Repräsentant des Bündnisses der Philosophie mit dem Säbel, nur von der Seite des Säbels her. Aber es waren Hegelianer, die aus dem Bewußtsein, ihre Zeit richtig erkannt zu haben, eine politische Diktatur forderten, in der sie, wie sich von selbst versteht, die Diktatoren sein würden. Nicht [71] anders wie Fichte waren sie "erbötig, aller Welt den Beweis zu führen, daß ihre Einsicht untrüglich sei". Das gab ihnen ein Recht zur Diktatur. -
 
[Marginalie: Diktatur und Dialektik im Marxistischen Sozialismus]
 
Was hier von Hegels Philosophie gesagt wird, daß sie eine Seite hat, deren praktische Konsequenz zu einer rationalistischen Diktatur führen könnte, gilt auch für den Marxismus, und zwar ist die Art Evidenz, auf die sich die metaphysische Sicherheit seiner Diktatur gründet, ganz im Rahmen Hegelischer Geschichts­konstruktion geblieben. Weil die wissenschaftlichen Interessen von Marx sich später ausschließlich zum National­ökonomischen wandten (auch das lag, wie gleich gezeigt werden soll, in der Konsequenz Hegelischen Denkens) und der entscheidende Begriff der Klasse nicht in das geschichts­philosophische und soziologische System hineingearbeitet ist, konnte ein oberflächliche Betrachtung das Wesentliche des Marxismus in die materialistische Geschichts­auffassung verlegen. Aber schon im kommunistischen Manifest[wp], dessen Linien immer grundlegend geblieben sind, zeigt sich die eigentliche Geschichts­konstruktion. Daß die Weltgeschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, wußte man längst; darin liegt wirklich nicht das Neue des kommunistischen Manifestes. Auch der Bourgeois war als hassenswerte Figur 1848 längst bekannt, und es gab damals kaum einen bedeutenden Literaten, der das Wort nicht als Schimpfwort gemeint hätte. Neu und faszinierend war am kommunistischen Manifest etwas anderes: die systematische Konzentrierung des Klassenkampfes zu einem einzigen, letzten Kampf der Menschheits­geschichte, zu dem dialektischen Höhepunkt der Spannung: Bourgeoisie und Proletariat[wp]. Die Gegensätze vieler Klassen werden zu einem letzten Gegensatz vereinfacht. An die Stelle der früheren zahlreichen Klassen, selbst an die Stelle der von Marx in den national­ökonomischen Ausführungen des "Kapitals"[wp] noch anerkannten drei Klassen Ricardos (Kapitalisten, Grundbesitzer, Lohnarbeiter) tritt ein einziger Gegensatz. Die Vereinfachung bedeutet eine gewaltige Steigerung der Intensität.
Sie ergab sich mit systematischer und methodischer Notwendigkeit. Weil der Gang der Entwicklung dialektisch und daher logisch ist, auch wenn seine Basis ökonomisch bleibt, muß sich im letzten kritischen, absolut entscheidenden Wendepunkt der Weltgeschichte [72] eine einfache Antithese ergeben. So entsteht die größte Spannung des weltgeschichtlichen Moments. In der logischen Vereinfachung liegt die letzte Steigerung nicht nur des wirklichen Kampfes, sondern auch des gedanklichen Gegensatzes. Alles muß aufs äußerste getrieben werden, damit es aus dialektischer Notwendigkeit umschlagen muß. Der ungeheuerste Reichtum muß dem ungeheuersten Elend gegenüberstehen, die alles-besitzende Klasse der nichtsbesitzenden, der Bourgeois, der nur besitzt, nur hat und nichts Menschliches mehr ist, dem Proletarier[wp], der nichts hat und nur noch ein Mensch ist. Ohne die Dialektik der Hegelschen Philosophie ließe es sich nach den bisherigen Erfahrungen der Geschichte durchaus denken, daß der Zustand der Verelendung jahrhunderte­lang besteht und schließlich die Menschheit in allgemeiner Dumpfheit untergeht oder eine neue Völkerwanderung das Antlitz der Erde ändert. Die kommunistische Gesellschaft der Zukunft, die höhere Stufe einer klassenlosen Menschheit, ist also nur dann evident, wenn der Sozialismus die Struktur Hegelscher Dialektik beibehält. Dann allerdings muß die Unmenschlichkeit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung notwendig ihre eigene Negation aus sich selbst produzieren.
Auch Lassalle suchte unter dem Eindruck dieser Dialektik die Spannung antithetisch zum Äußersten zu treiben, wenn auch bei ihm wohl ein mehr rhetorischer als denkerischer Trieb wirksam war, als er (gegen Schulze-Delitzsch) sagte: "Ricardo ist der größte Theoretiker der Bourgeois­ökonomie, er hat sie zum Gipfel, das heißt zum Abgrund, geführt, wo vermöge ihrer eigenen theoretischen Entwicklung selbst weiter nichts übrigbleibt als umzuschlagen in die Sozialökonomie." Die Bourgeoisie muß also ihre äußerste Intensität erreichen, bevor die Gewißheit eintreten kann, daß ihre letzte Stunde gekommen ist. In dieser wesentlichen Vorstellung sind Lassalle und Marx durchaus einig. Erst die Vereinfachung der Gegensätze zum letzten absoluten Klassengegensatz bringt in den dialektischen Prozeß den absolut kritischen Moment. Aber noch mehr: Woher jene Gewißheit, daß dieser Moment eingetreten und die letzte Stunde der Bourgeoisie wirklich gekommen ist? Wenn man die Art Evidenz untersucht, mit welcher der Marxismus hier argumentiert, so erkennt man eine dem Hegelischen [73] Rationalismus typische Selbstgarantie. Die Konstruktion geht davon aus, daß die Entwicklung ein immer steigendes Bewußtsein bedeutet, und sieht in der eigenen Gewißheit dieses Bewußtseins den Beweis dafür, daß sie richtig ist. Die dialektische Konstruktion steigender Bewußtheit zwingt den konstruierenden Denker, sich selbst mit seinem Denken als die Spitze der Entwicklung zu denken. Das bedeutet für ihn gleichzeitig die Überwindung des von ihm restlos Erkannten, des als historische Vergangenheit hinter ihm liegenden Stadiums. Er würde nicht richtig denken und sich selbst widersprechen, wenn nicht in ihm die Entwicklung sich am tiefsten bewußt würde. Daß eine Epoche im menschlichen Bewußtsein erfaßt wird, erbringt für die historische Dialektik den Beweis, daß die erkannte Epoche historisch erledigt ist. Denn das Antlitz dieses Denkers ist ins Historische, d. h. in das Vergangene und das vergehend Gegenwärtige, gekehrt; nichts ist falscher als die populäre Meinung, der Hegelianer glaube die Zukunft voraussagen zu können wie ein Prophet. Er kennt die kommenden Dinge, konkret, aber doch nur negativ, als dialektischen Gegensatz des heute schon historisch Erledigten. Das bis zum Gegenwärtigen entwickelte Vergangene dagegen erblickt er in seiner fortdauernden Entwicklung, und wenn er es richtig erkennt und richtig konstruiert, so kann man die Sicherheit haben, daß es, als restlos Erkanntes, einer vom Bewußtsein überwundenen Stufe angehört und seine letzte Stunde gekommen ist.
Trotz einiger Redewendungen, wie "eiserne Notwendigkeit", berechnet Marx die kommenden Dinge nicht, wie ein Astronom künftige Gestirn­konstellationen berechnet; aber ebensowenig ist er, was ein psychologistischer Journalismus aus ihm machen wollte, ein jüdischer Prophet, der kommende Katastrophen prophezeit. Daß bei ihm ein starkes moralisches Pathos lebendig ist und seine Argumentation und Darstellungsweise beeinflußt, ist nicht schwer zu erkennen, aber es ist, ebensowenig wie die haßerfüllte Verachtung für den Bourgeois, nicht sein Spezifisches. Beides findet man auch bei vielen Nichtsozialisten. Die Leistung von Marx bestand darin, daß er den Bourgeois aus der Sphäre aristokratischen und literarischen Ressentiments zu einer welthistorischen Figur erhob, die nicht im moralischen, sondern im [74] Hegelischen Sinne das absolut Unmenschliche sein mußte, um in unmittelbarer Notwendigkeit das Gute und absolut Menschliche als seinen Gegensatz hervorzurufen, ähnlich wie nach Hegel (Phänomenologie II 257) "von dem jüdischen Volk gesagt werden kann, daß es gerade darum, weil es unmittelbar vor der Pforte des Heils stehe, das verworfenste sei". Von dem Proletariat läßt sich daher marxistisch nur sagen, daß es absolut die Negation der Bourgeoisie sein wird. Es wäre unwissenschaftlicher Sozialismus, sich auszumalen, wie es im proletarischen Zukunftsstaat aussieht. Daß alles, was das Proletariat angeht, nur negativ sich bestimmen läßt, ist eine systematische Notwendigkeit. Erst als man das vollständig vergessen hatte, konnte man Versuche anstellen, das Proletariat positiv zu bestimmen. Richtigerweise läßt sich von der Zukunft­gesellschaft nur sagen, daß es in ihr keine Klassen­gegensätze gibt, und vom Proletariat nur, daß es diejenige Gesellschafts­klasse ist, die nicht am Mehrwert partizipiert, die nicht besitzt, weder Familie noch Vaterland kennt usw. Der Proletarier wird das soziale Nichts. Von ihm muß gelten, daß er im Gegensatz zum Bourgeois nichts ist als Mensch, woraus mit dialektischer Notwendigkeit folgt, daß er in der Übergangszeit nichts sein darf als Klassen­angehöriger, d. h. aufgehen muß gerade in dem, was den Gegensatz zur Menschheit ausmacht, in der Klasse. Der Klassengegensatz muß der absolute Gegensatz werden, damit alle Gegensätze absolut überwunden werden und im Reinmenschlichen verschwinden können.
 
[Marginalie: Die Selbstgarantie des Marxismus]
 
Die wissenschaftliche Gewißheit des Marxismus bezieht sich also auf das Proletariat nur negativ, insoweit es ökonomisch der dialektische Gegensatz der Bourgeoisie ist. Positiv dagegen und in voller Geschichtlichkeit muß die Bourgeoisie erkannt werden. Weil ihr Wesen im Ökonomischen liegt, mußte ihr Marx auf das ökonomische Gebiet folgen, um sie dort restlos und in ihrem Wesen zu fassen. Gelang ihm das, hat er sie restlos erkannt, so ist der Beweis erbracht, daß sie der Geschichte angehört und erledigt [75] ist, ein Stadium der Entwicklung darstellt, welches der Geist bewußt überwunden hat. Für die Wissenschaftlichkeit des marxistischen Sozialismus[wp] ist es wahrhaftig eine Frage von Leben und Tod, ob es gelingt, die Bourgeoisie richtig zu analysieren und zu erfassen. Hier liegt das tiefste Motiv des dämonischen Fleißes, mit dem Marx in die ökonomischen Fragen hineindrang. Man hat ihm den Einwand gemacht, daß er die Naturgesetze des ökonomischen und sozialen Lebens zu finden hoffte und doch seine Untersuchungen fast ausschließlich auf industrielle Verhältnisse Englands beschränkte, als der "klassischen Stätte" der kapitalistischen Produktionsweise, daß er immer nur von Waren und Werten, also Begriffen des bürgerlichen Kapitalismus, spreche und damit in der alten klassischen, also bürgerlichen Nationalökonomie verbleibe. Dieser Einwand wäre richtig, wenn die spezifische Wissenschaftlichkeit des Marxismus nur in den scharfsinnigen Analysen läge. Wissenschaftlichkeit bedeutet aber hier die Bewußtheit einer Entwicklungs­metaphysik, die das Bewußtsein zum Kriterium des Fortschrittes macht. Die ungeheure Eindringlichkeit, mit der Marx immer von neuem auf die bürgerliche Ökonomie eingeht, ist also weder akademisch-theoretischer Fanatismus noch ein bloß technisch-taktisches Interesse am Gegner. Sie steht unter einem durch und durch metaphysischen Zwang. Das richtige Bewußtsein ist ein Kriterium dafür, daß eine neue Stufe der Entwicklung beginnt. Solange das nicht der Fall ist, solange nicht wirklich eine neue Epoche bevorsteht, kann die bisherige Epoche, d. h. die Bourgeoisie, nicht richtig erkannt werden, und umgekehrt: daß sie richtig erkannt ist, enthält wieder den Beweis, daß ihre Epoche zu Ende ist. In solchem Zirkel bewegt sich die Selbstgarantie der Hegelischen und auch die der Marxistischen Gewißheit. Erst die richtige Einsicht in den Gang der Entwicklung gibt also die wissenschaftliche Sicherheit, daß der historische Moment des Proletariats gekommen ist. Die Bourgeoisie kann das Proletariat nicht begreifen, wohl aber das Proletariat die Bourgeoisie. Darum bricht über die Epoche der Bourgeoisie die Dämmerung herein; die Eule der Minerva beginnt ihren Flug, und das soll hier nicht heißen, daß Kunst und Wissenschaft gedeihen, sondern daß die untergehende Epoche das Objekt historischen Bewußtseins einer neuen Epoche geworden ist. - [76] Im letzten Endzustande mag eine Marxistische, zu sich selbst gekommene Menschheit sich nicht unterscheiden von dem, was die rationalistische Erziehungs­diktatur als den Endzustand der Menschheit ansah. Dorthin brauchen wir dem Gedankengang nicht zu folgen. Der Rationalismus, der auch die Weltgeschichte in seine Konstruktion einbezieht, hat wohl seine großartigen dramatischen Momente; aber seine Steigerung endet in einem Fieber, und unmittelbar vor sich sieht er nicht mehr das idyllische Paradies, das der naive Optimismus der Aufklärung, das Condorcet in seiner Skizze der Entwicklung des Menschengeschlechts, in der "Apokalypse der Aufklärung", vor sich sah. Der neue Rationalismus hebt auch sich selbst dialektisch auf, und vor ihm steht eine furchtbare Negation. Die Gewaltanwendung, zu der es dabei kommen wird, kann nicht mehr die naive Schulmeisterei Fichtescher Erziehungs­diktatur sein. Der Bourgeois soll nicht erzogen, sondern vernichtet werden. Der Kampf, der ganz reale, blutige Kampf, der hier entsteht, brauchte einen anderen Gedankengang und eine andere Geistesverfassung als die im Kern immer im Kontemplativen verbleibende Hegelianische Konstruktion. Als wichtigster intellektueller Faktor bleibt sie zwar durchaus bestehen, und welcher Spannkraft sie noch fähig ist, läßt fast jede Schrift Lenins[wp] und Trotzkis[wp] erkennen. Aber sie ist nur ein intellektuelles Instrument geworden für eine in Wahrheit nicht mehr rationalistische Motivierung. Die Parteien des Kampfes, der zwischen Bourgeoisie und Proletariat entbrannt ist, mußten eine konkretere Gestalt bekommen, wie es für einen wirklichen konkreten Kampf notwendig war. Eine Philosophie konkreten Lebens bot hierfür eine geistige Waffe, eine Theorie, die jede intellektuelle Erkenntnis als etwas nur Sekundäres ansah im Vergleich zu tieferen - voluntaristischen, emotionalen oder vitalen - Vorgängen, und die einer Geistesverfassung entsprach, in der das Rangverhältnis der überlieferten Moral, nämlich die Herrschaft des Bewußten über das Unbewußte, der Ratio über die Instinkte, von Grund auf erschüttert war. Dem absoluten Rationalismus der Erziehungsdiktatur sowohl wie dem relativen Rationalismus der Gewaltenteilung trat eine neue Theorie unmittelbarer Gewaltanwendung entgegen, dem Glauben an die Diskussion eine Theorie der direkten Aktion. Nicht nur der [77] Parlamentarismus, auch die in der rationalistischen Diktatur theoretisch immer noch bewahrte Demokratie war damit in ihrem Fundament angegriffen. Wie Trotzki gegen den Demokraten Kautsky[wp] mit Recht bemerkt: im Bewußtsein von Relativitäten findet man nicht den Mut, Gewalt anzuwenden und Blut zu vergießen.

IV. Irrationalistische Theorien unmittelbarer Gewaltanwendung

Es darf hier wiederholt werden, daß diese Betrachtung ihr Interesse konsequent auf die ideelle Grundlage politischer und staats­philosophischer Tendenzen richtet, um die moralisch Situation des heutigen Parlamentarismus und die Kraft der parlamentarischen Idee zu erkennen. Lag in der Marxistischen Diktatur des Proletariats[wp] immer noch die Möglichkeit einer rationalistischen Diktatur, so beruhen alle modernen Lehren direkter Aktion und Gewaltanwendung mehr oder weniger bewußt auf einer Irrationalitäts­philosophie. In der Wirklichkeit, wie sie in der bolschewistischen Herrschaft auftrat, zeigte sich, daß im politischen Leben sehr verschiedene Strömungen und Tendenzen nebeneinander wirksam sein können. Obwohl die bolschewistische Regierung aus politischen Gründen die Anarchisten unterdrückte, enthält der Komplex, in dem sich die bolschewistische Argumentation tatsächlich bewegt, ausgesprochen anarcho-syndikalistische Gedankengänge, und daß die Bolschewisten ihre politische Macht gebrauchen, um den Anarchismus auszurotten, vernichtet die geistes­geschichtliche Verwandtschaft ebensowenig wie die Unterdrückung der Levellers durch Cromwell seinen Zusammenhang mit ihnen aufhebt. Vielleicht ist der Marxismus auf russischem Boden so hemmungslos aufgetreten, weil hier das proletarische Denken von allen Bindungen westeuropäischer Tradition und allen den moralischen und Bildungsvorstellungen, in denen Marx und Engels noch ganz selbstverständlich lebten, endgültig gelöst war. Die Theorie von der Diktatur des Proletariats[wp], wie sie heute noch bei den marxistischen Parteien offiziell ist, wäre zwar ein schönes Beispiel dafür, daß ein der geschichtlichen Entwicklung sich bewußter Rationalismus zur Gewaltanwendung schreitet; auch lassen sich in der Gesinnung, in der Argumentation, in [78] der organisatorischen und administrativen Durchführung, zahllose Parallelen zur jakobinischen Diktatur von 1793 zeigen und die ganze Unterrichts- und Bildungs­organisation, die von der Sowjetregierung im sogenannten "Proletkult" geschaffen wurde, ist ein herrlicher Fall einer radikalen Erziehungs­diktatur. Aber damit ist noch nicht erklärt, warum gerade in Rußland die Ideen des Industrie­proletariats moderner Großstädte zu solcher Herrschaft gelangen konnten. Der Grund liegt darin, daß neue, irrationalistische Motive der Gewaltanwendung mit wirksam gewesen sind: nicht der aus einer extremen Übertreibung in sein Gegenteil umschlagende Rationalismus, der in Utopien phantasiert, sondern eine neue Bewertung rationalen Denkens überhaupt, ein neuer Glaube an Instinkt und Intuition, der jeden Glauben an die Diskussion beseitigt und es auch ablehnen würde, durch eine Erziehungs­diktatur die Menschheit reif zur Diskussion zu machen.
Von den hier interessierenden Schriften ist in Deutschland eigentlich nur Enrico Ferris[wp] "revolutionäre Methode" dank der Übersetzung von Robert Michels (in der Grünbergschen Sammlung der Hauptwerke des Sozialismus) bekannt geworden. Die Darlegung im folgenden hält sich an die "Réflexions sur la violence" von Georges Sorel[wp], die den geistes­geschichtlichen Zusammenhang am deutlichsten erkennen lassen. Dies Buch hat außerdem den Vorzug zahlreicher origineller historischer und philosophischer Aperçus und bekennt sich offen zu seinen geistigen Ahnen, zu Proudhon, Bakunin[wp] und Bergson. Sein Einfluß ist bedeutend größer, als man auf den ersten Blick erkennen könnte und ist sicher nicht dadurch erledigt, daß Bergson unmodern wird. Benedetto Croce meinte von Sorel, er habe dem marxistischen Traum eine neue Form gegeben, doch habe bei der Arbeiterschaft der demokratische Gedanke endgültig gesiegt. Nach den [79] Ereignissen in Rußland und in Italien wird man das nicht mehr so endgültig annehmen können. Die Grundlage jener Reflexionen über die Gewalt ist eine Theorie unmittelbaren konkreten Lebens, die von Bergson übernommen und unter dem Einfluß von zwei Anarchisten, Proudhon und Bakunin, auf Probleme des sozialen Lebens übertragen wird.
Für Proudhon und für Bakunin bedeutet Anarchismus[wp] einen Kampf gegen jede Art systematischer Einheit, gegen die zentralisierende Uniformität des modernen Staates, gegen die parlamentarischen Berufspolitiker, gegen Bureaukratie, Militär und Polizei, gegen den als metaphysischen Zentralismus empfundenen Gottesglauben. Die Analogie der beiden Vorstellungen von Gott und Staat drängte sich Proudhon unter dem Einfluß der Restaurations­philosophie auf. Er gab ihr eine revolutionäre, antistaatliche und antitheologische Wendung, die Bakunin zur letzten Konsequenz geführt hat. Die konkrete Individualität, die soziale Wirklichkeit des Lebens wird in jedem umfassenden System vergewaltigt. Der Einheits­fanatismus der Aufklärung ist nicht weniger despotisch wie die Einheit und Identität der modernen Demokratie. Einheit ist Sklaverei; auf Zentralismus und Autorität beruhen alle tyrannischen Institutionen, mögen sie nun, wie in der modernen Demokratie, durch das allgemeine Wahlrecht sanktioniert sein oder nicht. Bakunin gibt diesem Kampf gegen Gott und Staat den Charakter eines Kampfes gegen Intellektualismus und gegen die überlieferte Form der Bildung überhaupt. Er sieht - mit gutem Grund - in der Berufung auf den Verstand eine Prätention, das Haupt, der Kopf, das Gehirn einer Bewegung zu sein, also wieder eine neue Autorität. Auch die Wissenschaft hat nicht das Recht zu herrschen. Sie ist nicht das Leben, sie schafft nichts, sie konstruiert und erhält, aber sie versteht nur das Allgemeine, das Abstrakte und opfert die individuelle Fülle des Lebens auf dem Altar ihrer Abstraktion. Die Kunst ist für das Leben der Menschheit wichtiger als die Wissenschaft. Derartige Äußerungen Bakunins [80] stimmen mit Gedanken von Bergson überraschend überein und sind mit Recht hervorgehoben worden. Aus dem unmittelbaren, immanenten Leben der Arbeiterschaft selbst hat man die Bedeutung der Gewerkschaften und ihrer spezifischen Kampfmittel, besonders des Streikes, erkannt. So wurden Proudhon und Bakunin die Väter des Syndikalismus und schufen die Tradition, auf welcher, durch Argumente Bergsonscher Philosophie gestützt, die Gedanken von Sorel beruhen. Ihren Kern bildet eine Theorie vom Mythus, die den stärksten Gegensatz zum absoluten Rationalismus und seiner Diktatur bedeutet, aber gleichzeitig, weil sie eine Lehre unmittelbarer aktiver Entscheidung ist, einen noch stärkeren Gegensatz zu dem relativen Rationalismus des ganzen Komplexes, der sich um Vorstellungen wie Balancierung, öffentliche Diskussion und Parlamentarismus gruppiert.
Die Fähigkeit zum Handeln und zum Heroismus, alle weltgeschichtliche Aktivität liegt für Sorel[wp] in der Kraft zum Mythus. Beispiele solcher Mythen sind: die Vorstellung von Ruhm und großem Namen bei den Griechen, oder die Erwartung des jüngsten Gerichts im alten Christentum, der Glaube an die "vertu" und an die revolutionäre Freiheit während der großen französischen Revolution, die nationale Begeisterung der deutschen Freiheitskriege von 1813. Nur im Mythus liegt das Kriterium dafür, ob ein Volk oder eine andere soziale Gruppe eine historische Mission hat und sein historischer Moment gekommen ist. Aus den Tiefen echter Lebensinstinkte, nicht aus einem Räsonnement oder einer Zweckmäßigkeitserwägung, entspringt der große Enthusiasmus, die große moralische Dezision und der große Mythus. In unmittelbarer Intuition schafft eine begeisterte Masse das mythische Bild, das ihre Energie vorwärts treibt und ihr sowohl die Kraft zum Martyrium wie den Mut zur Gewaltanwendung gibt. Nur so wird ein Volk oder eine Klasse zum Motor der Weltgeschichte. Wo das fehlt, läßt sich keine soziale und politische Macht aufrechthalten, und kein mechanischer Apparat kann einen Damm bilden, wenn ein neuer Strom geschichtlichen Lebens losbricht. Demnach kommt alles darauf an, richtig zu sehen, wo heute diese Fähigkeit [81] zum Mythus und diese vitale Kraft wirklich lebt. Bei der modernen Bourgeoisie, dieser in Angst um Geld und Besitz verkommenen, durch Skeptizismus, Relativismus und Parlamentarismus moralisch zerrütteten Gesellschaftsschicht, wird man sie gewiß nicht finden. Die Herrschaftsform dieser Klasse, die liberale Demokratie, ist nur eine "demagogische Plutokratie". Wer ist also heute der Träger des großen Mythus? Sorel sucht zu beweisen, daß nur noch die sozialistischen Massen des Industrieproletariats einen Mythus haben, und zwar im Generalstreik, an den sie glauben. Es ist viel weniger wichtig, was der Generalstreik heute wirklich bedeutet, als welchen Glauben das Proletariat mit ihm verbindet, zu welchen Taten und Opfern er es begeistert, und ob er eine neue Moral zu produzieren vermag. Der Glaube an den Generalstreik und an eine durch ihn herbeizuführende ungeheure Katastrophe des ganzen sozialen und wirtschaftlichen Lebens gehört daher zum Leben des Sozialismus. Aus den Massen selbst, aus der Unmittelbarkeit industrieproletarischen Lebens, ist er entstanden, nicht als eine Erfindung von Intellektuellen und Literaten, nicht als eine Utopie; denn auch die Utopie ist nach Sorel ein Produkt rationalistischen Geistes und will nach einem mechanischen Schema von außen das Leben meistern.
Unter dem Gesichtspunkt dieser Philosophie wird das bürgerliche Ideal friedlicher Verständigung, bei dem alle ihren Vorteil finden und ein gutes Geschäft machen sollen, zu einer Ausgeburt feigen Intellektualismus; die diskutierende, transingierende, parlamentierende Verhandlung erscheint als ein Verrat am Mythus und an der großen Begeisterung, auf die alles ankommt. Dem merkantilen Bild von der Balance tritt ein anderes entgegen, die kriegerische Vorstellung einer blutigen, definitiven, vernichtenden Entscheidungsschlacht. Gegen den parlamentarischen Konstitutionalismus trat dieses Bild 1848 von beiden Seiten auf: von der Seite der überlieferten Ordnung im konservativen Sinne, repräsentiert durch einen katholischen Spanier, Donoso Cortes, und im radikalen Anarchosyndikalismus bei Proudhon. Beide verlangen eine Entscheidung. Alle Gedanken des Spaniers bewegen sich um den großen Kampf (la gran contienda), um die furchtbare Katastrophe, die bevorsteht und nur von der metaphysischen Feigheit eines [82] diskutierenden Liberalismus geleugnet werden kann. Und Proudhon, für dessen Denken hier die Schrift "La Guerre et la Paix" charakteristisch ist, spricht von der den Gegner vernichtenden Napoleonischen Schlacht, der "Bataille Napoléonienne". Alle Gewaltsamkeiten und Rechtsverletzungen, die zu dem blutigen Kampf gehören, erhalten für Proudhon eine geschichtliche Sanktion. Statt der relativen, einer parlamentarischen Behandlung zugänglichen Gegensätze erscheinen jetzt absolute Antithesen. "Es kommt der Tag der radikalen Verneinungen und der souveränen Behauptungen"; keine parlamentarische Diskussion kann ihn aufhalten ; das von seinen Instinkten getriebene Volk wird die Katheder der Sophisten zerschlagen - alles Äußerungen von Cortes, die wörtlich von Sorel stammen könnten, nur daß der Anarchist auf der Seite der Instinkte des Volkes steht. Für Cortes ist der radikale Sozialismus etwas Großartigeres als die liberale Transingenz, weil er auf die letzten Probleme zurückgeht und auf radikale Fragen eine entscheidende Antwort gibt, weil er eine Theologie hat. Gerade Proudhon ist hier der Gegner, nicht weil er der 1848 am meisten genannte Sozialist war, gegen den Montalembert eine berühmte Parlamentsrede gehalten hatte, sondern weil er ein radikales Prinzip radikal vertritt. Der Spanier verzweifelte angesichts der dummen Ahnungslosigkeit der Legitimisten und der feigen Schlauheit der Bourgeoisie. Nur beim Sozialismus sah er noch das, was er Instinkt (el instinto) nannte, woraus er den Schluß zog, daß auf die Dauer alle Parteien für den Sozialismus arbeiten. So gewannen die Gegensätze wieder geistige Dimensionen und oft eine geradezu eschatologische Spannung. Anders als bei der dialektisch konstruierten Spannung des Hegelischen Marxismus handelt es sich hier um die unmittelbaren, intuitiven Gegensätze mythischer Bilder. Marx konnte von der Höhe seiner Hegelischen Schulung Proudhon als einen philosophischen Dilettanten behandeln und ihm zeigen, wie arg er Hegel mißverstanden hatte.
Heute würde ein radikaler Sozialist mit Hilfe einer heute modernen Philosophie Marx zeigen können, daß er hier nur ein Schulmeister war und noch [83] ganz in der intellektualistischen Überschätzung westeuropäisch-bürgerlicher Bildung steckte, während der arme, abgekanzelte Proudhon jedenfalls den Instinkt für das wirkliche Leben arbeitender Massen besaß. In den Augen von Cortes war der sozialistische Anarchist ein böser Dämon, ein Teufel, und für Proudhon ist der Katholik ein fanatischer Großinquisitor, über den er zu lachen versucht. Daß hier die beiden eigentlichen Gegner waren und alles andere provisorische Halbheit, ist heute leicht zu erkennen.
Die kriegerischen und heroischen Vorstellungen, die sich mit Kampf und Schlacht verbinden, werden von Sorel wieder ernst genommen als die wahren Impulse intensiven Lebens. Das Proletariat muß an den Klassenkampf glauben als an einen wirklichen Kampf, nicht wie an ein Stichwort für Parlaments­reden und demokratische Wahlagitation. Es begreift ihn aus einem Lebensinstinkt, ohne wissenschaftliche Konstruktion, aber als Schöpfer einer gewaltige Mythe, in der es den Mut zur Entscheidungs­schlacht findet. Für den Sozialismus und seinen Klassen­kampf­gedanken gibt es daher keine größere Gefahr als Berufspolitik und Beteiligung am parlamentarischen Betrieb. Sie zermürben den großen Enthusiasmus in Geschwätz und Intrige und töten die echten Instinkte und Intuitionen, aus denen eine moralische Dezision hervorgeht. Was das menschliche Leben an Wert hat, kommt nicht aus einem Räsonnement; es entsteht im Kriegszustande bei Menschen, die, von großen mythischen Bildern beseelt, am Kampfe teilnehmen; es hängt ab "d'un état de guerre auquel les hommes acceptent de participer et qui se traduit en mythes [84] précis" (Réflexions p. 319). Kriegerische, revolutionäre Begeisterung und die Erwartung ungeheurer Katastrophen gehören zur Intensität des Lebens und bewegen die Geschichte. Aber der Schwung muß aus den Massen selbst kommen; Ideologen und Intellektuelle können ihn nicht erfinden. So sind die Revolutionskriege von 1792 entstanden; so die Epoche, die Sorel mit Renan als die größte Epopöe des 19. Jahrhunderts feiert, nämlich die deutschen Freiheitskriege von 1813: aus der irrationalen Lebensenergie einer anonymen Masse wurde ihr heroischer Geist geboren.
Jede rationalistische Deutung würde die Unmittelbarkeit des Lebens fälschen. Der Mythus ist keine Utopie. Denn diese, ein Produkt räsonnierenden Denkens, führt höchstens zu Reformen. Auch darf man den kriegerischen Elan nicht mit einem Militarismus verwechseln, und vor allem will die Gewaltanwendung dieser Irrationalitätsphilosophie etwas anderes sein als Diktatur. Sorel haßt, wie Proudhon, allen Intellektualismus, alle Zentralisierung, Uniformierung und verlangt doch auch, wie Proudhon, strengste Disziplin und Moral. Die große Schlacht wird kein Werk wissenschaftlicher Strategie sein, sondern eine "accumulation d'exploits héroiques" und eine Entfesselung der "force individualiste dans les masses soulevées" (Réflexions p. 376). Die schöpferische Gewalt, wie sie aus der Spontaneität enthusiasmierter Massen bricht, ist infolgedessen auch etwas anderes als Diktatur. Rationalismus und alle Monismen, die ihm folgen, Zentralisation und Uniformität, ferner die bürgerlichen Illusionen vom "großen Mann" gehören nach Sorel zur Diktatur. Ihr praktisches Resultat ist systematische Unterjochung, justizförmige Grausamkeit und ein mechanischer Apparat. Die Diktatur ist nichts als eine aus rationalistischem Geist geborene militärisch-bureaukratisch-polizeiliche Maschine, die revolutionäre Gewaltanwendung der Massen dagegen ein Ausdruck unmittelbaren Lebens, oft wild und barbarisch, aber niemals systematisch grausam und unmenschlich. Diktatur des Proletariats[wp] bedeutet auch für Sorel, wie für jeden, der den geistesgeschichtlichen Zusammenhang sieht, eine Wiederholung von 1793. Wenn der Revisionist Bernstein die Meinung ausgesprochen hat, diese Diktatur werde vermutlich die eines Klubs von Rednern und Literaten sein, so dachte er eben [85] an die Imitation von 1793, und Sorel erwidert ihm (Réflexions p. 251): die Vorstellung einer Diktatur des Proletariats ist ein Erbteil aus dem ancien régime. Sie hat zur Folge, daß man, wie die Jakobiner es getan haben, einen neuen bureaukratischen und militärischen Apparat an die Stelle des alten setzt. Das wäre eine neue Herrschaft von Intellektuellen und Ideologen, aber keine proletarische Freiheit. Auch Engels, von dem das Wort stammt, daß es bei der Diktatur des Proletariats zugehen werde wie 1793, ist in den Augen von Sorel ein typischer Rationalist. Aber daraus folgt nicht, daß es bei der proletarischen Revolution revisionistisch-pazifistisch-parlamentarisch zugehen müßte. Vielmehr tritt an die Stelle der mechanisch-konzentrierten Macht des bürgerlichen Staates die schöpferische proletarische Gewalt, an die Stelle der "force" die "violence". Diese ist nur ein kriegerischer Akt, keine juristisch und administrativ formierte Maßnahme. Marx hat die Unterscheidung noch nicht gekannt, weil er noch in den überlieferten politischen Vorstellungen lebte. Die proletarischen, nichtpolitischen Syndikate und der proletarische Generalstreik bringen spezifisch neue Kampfmethoden hervor, die eine Wiederholung der alten politischen und militärischen Mittel ganz unmöglich machen. Für das Proletariat gibt es daher nur eine Gefahr, daß es sich seine Kampfmittel durch die parlamentarische Demokratie aus der Hand nehmen und paralysieren läßt (Reflexions p. 268).
Wenn man einer so entschieden irrationalistischen Theorie mit Argumenten entgegentreten darf, so wird man auf mehrere Un- [86] stimmigkeiten hinweisen müssen, nicht also auf Fehler im Sinne einer abstrakten Logik, sondern auf unorganische Widersprüche. Zunächst versucht Sorel die rein ökonomische Basis des proletarischen Standpunktes beizubehalten und geht, trotz mancher Einwände, immer entschieden von Marx aus. Er hofft, das Proletariat werde eine Moral ökonomischer Produzenten schaffen. Der Klassenkampf ist ein Kampf, der sich auf ökonomischer Basis mit ökonomischen Mitteln abspielt. Im vorigen Kapitel wurde gezeigt, daß Marx aus einer systematischen und logischen Notwendigkeit seinem Gegner, dem Bourgeois, auf das ökonomische Gebiet gefolgt ist. Hier hat also der Feind das Terrain bestimmt, auf dem man kämpft, und auch die Waffen, d. h. die Struktur der Argumentation. Wenn man dem Bourgeois auf das ökonomische Gebiet folgt, wird man ihm auch in Demokratie und Parlamentarismus folgen müssen. Außerdem wird man sich ohne den wirtschaftlich-technischen Rationalismus der bürgerlichen Ökonomie vorläufig wenigstens auf ökonomischem Gebiete nicht bewegen können. Der vom kapitalistischen Zeitalter geschaffene Mechanismus der Produktion hat eine rationalistische Gesetz­mäßigkeit in sich und aus einer Mythe kann man wohl den Mut schöpfen, ihn zu zerschlagen; soll er aber weitergeführt werden, soll die Produktion sich noch weiter steigern, was auch Sorel selbstverständlich will, so wird das Proletariat auf seinen Mythus verzichten müssen. Ebenso wie die Bourgeoisie wird es durch die Übermacht des Produktions­mechanismus in eine rationalistische und mechanistische Mythen­losigkeit hineingezwungen. Hier war Marx auch im vitalen Sinne konsequenter, weil er rationalistischer war. Aber vom Irrationalen aus gesehen, war es ein Verrat, noch ökonomischer und noch rationalistischer sein zu wollen als die Bourgeoisie. Bakunin hat das durchaus richtig empfunden. Bildung und Denkweise von Marx blieben im Überlieferten, das hieß damals im Bürgerlichen, so daß er in geistiger Abhängigkeit von seinem Gegner verharrte. Trotzdem hat er gerade durch seine Konstruktion des Bourgeois eine für den Mythus im Sinne von Sorel unentbehrliche Arbeit geleistet. [87]
Die große psychologische und geschichtliche Bedeutung der Mythentheorie kann gar nicht geleugnet werden. Auch die mit den Mitteln Hegelischer Dialektik unternommene Konstruktion des Bourgeois hat dazu gedient, ein Bild von einem Gegner zu schaffen, auf das alle Affekte von Haß und Verachtung sich häufen konnten. Ich glaube, die Geschichte dieses Bildes vom Bourgeois ist ebenso wichtig wie die Geschichte des Bourgeois selbst. Eine zuerst von Aristokraten geschaffene Spottfigur wird im 19. Jahrhundert von romantischen Künstlern und Dichtern weitergeführt. Seitdem die Wirkung von Stendhal sich verbreitet, verachten alle Literaten den Bourgeois, auch wenn sie von ihm leben oder wenn sie zur Lieblings­lektüre eines bürgerlichen Publikums werden, wie Murger mit seiner Bohème. Wichtiger als solche Karikaturen ist der Haß sozial deklassierter Genies, wie Baudelaire, der dem Bild immer neues Leben gibt. Diese in Frankreich von französischen Autoren angesichts des französischen Bourgeois geschaffene Figur stellen Marx und Engels in die Dimensionen einer welt­geschichtlichen Konstruktion. Sie geben ihr die Bedeutung des letzten Repräsentanten der vorgeschichtlichen, in Klassen zerteilten Menschheit, des letzten Feindes der Menschheit überhaupt, des letzten odium generis humani. So wurde das Bild unendlich erweitert und mit einem großartigen, nicht nur weltgeschichtlichen, sondern auch metaphysischen Hintergrund nach dem Osten weitergetragen. Hier konnte es dem russischen Haß gegen die Kompliziertheit, Künstlichkeit und den Intellektualismus west­europäischer Zivilisation neues Leben geben und von ihm selber neues Leben empfangen. Auf russischem Boden vereinigten sich alle Energien, die dieses Bild geschaffen hatten. Beide, der Russe wie der Proletarier, sahen jetzt im Bourgeois die Inkarnation alles dessen, was wie ein tödlicher Mechanismus ihre Art Leben zu knechten suchte. Das Bild war von Westen nach Osten gewandert. Hier aber bemächtigte sich seiner ein Mythus, der nicht mehr rein aus Klassenkampf­instinkten wächst, sondern starke nationale Elemente enthält. Sorel hat, als eine Art Testament, der letzten Auflage seiner Reflexionen über die Gewalt 1919 eine Apologie für Lenin beigefügt. Er nennt ihn den größten Theoretiker, den der Sozialismus seit Marx gehabt hat und vergleicht ihn als Staatsmann mit [88] Peter dem Großen, nur daß heute umgekehrt nicht mehr ein west­europäischer Intellektualismus Rußland sich assimiliert, vielmehr umgekehrt die proletarische Gewaltanwendung hier mindestens eines erreicht hat, nämlich daß Rußland wieder russisch geworden ist, Moskau wieder die Hauptstadt, und daß die europäisierte, ihr eigenes Land verachtende russische Oberschicht vernichtet wurde. Die proletarische Gewalt­anwendung hat Rußland wieder moskowitisch gemacht. Im Munde eines internationalen Marxisten ist das ein merkwürdiges Lob, denn es zeigt, daß die Energie des Nationalen größer ist als die des Klassenkampf­mythus.
Auch die anderen Beispiele von Mythen, die Sorel erwähnt, beweisen, soweit sie in die neuere Zeit fallen, daß der stärkere Mythus im Nationalen liegt. Die revolutionären Kriege des französischen Volkes, die spanischen und deutschen Freiheits­kämpfe gegen Napoleon sind Symptome einer nationalen Energie. Im Nationalgefühl sind verschiedene Elemente auf höchst verschiedenartige Weise bei den verschiedenen Völkern wirksam: die mehr naturhaften Vorstellungen von Rasse und Abstammung, ein anscheinend mehr für kelto-romanische Stämme typischer "terrisme"; dann Sprache, Tradition, Bewußtsein gemeinsamer Kultur und Bildung, Bewußtsein einer Schicksals­gemeinschaft, eine Empfindlichkeit für das Verschiedensein an sich - alles das bewegt sich heute eher in der Richtung zu nationalen als zu Klassen­gegensätzen. Beides kann sich verbinden, wofür als Beispiel die Freundschaft zwischen Padraic Pearse, dem Märtyrer des neuen irischen National­bewußtseins, und dem irischen Sozialisten Connolly genannt sei, die beide als Opfer des Dubliner Aufstandes 1916 starben. Auch kann ein gemeinsamer ideeller Gegner eine merkwürdige Übereinstimmung bewirken; so trifft die Bekämpfung der Freimaurerei durch den Fascismus zusammen mit dem Haß von Bolschewisten gegen die Freimaurerei, die als der "perfideste Betrug der Arbeiterklasse durch eine radikalisierende Bourgeoisie" bezeichnet wird. Aber wo es zu einem offenen Gegensatz der beiden Mythen gekommen ist, in Italien, hat bis heute der nationale Mythus gesiegt. Seinen kommunistischen Feind malte der ita- [89] lienische Fascismus mit einem grausigen Bild, dem mongolischen Gesicht des Bolschewismus; es hat größeren Eindruck gemacht und stärkere Affekte hervorgerufen als das sozialistische Bild vom Bourgeois. Bisher gibt es nur ein einziges Beispiel dafür, daß unter bewußter Berufung auf den Mythus Menschheits­demokratie und Parlamentarismus verächtlich beiseite gesetzt wurden, und das war ein Beispiel für die irrationale Kraft des nationalen Mythus. In seiner berühmten Rede vom Oktober 1922 in Neapel, vor dem Marsch auf Rom, sagte Mussolini: "Wir haben einen Mythus geschaffen, der Mythus ist ein Glaube, ein edler Enthusiasmus, er braucht keine Realität zu sein, er ist ein Antrieb und eine Hoffnung, Glaube und Mut. Unser Mythus ist die Nation, die große Nation, die wir zu einer konkreten Realität machen wollen." In derselben Rede nennt er den Sozialismus eine inferiore Mythologie. Wie damals, im 16. Jahrhundert, hat wieder ein Italiener das Prinzip der politischen Wirklichkeit ausgesprochen. Die geistes­geschichtliche Bedeutung dieses Beispiels ist deshalb besonders groß, weil der nationale Enthusiasmus auf italienischem Boden bisher eine demokratische und parlamentarisch-konstitutionelle Tradition hatte und ganz von der Ideologie des angelsächsischen Liberalismus beherrscht zu sein schien.
Die Theorie vom Mythus ist der stärkste Ausdruck dafür, daß der relative Rationalismus des parlamentarischen Denkens seine Evidenz verloren hat. Wenn anarchistische Autoren aus Feindschaft gegen Autorität und Einheit die Bedeutung des Mythischen entdeckten, so haben sie doch, ohne es zu wollen, an der Grundlage einer neuen Autorität, eines neuen Gefühls für Ordnung, Disziplin und Hierarchie mitgearbeitet. Freilich, die ideelle Gefahr derartiger Irrationalitäten ist groß. Letzte, wenigstens in einigen Resten noch bestehende Zusammen­gehörigkeiten werden aufgehoben in dem Pluralismus einer unabsehbaren Zahl von Mythen. Für die politische Theologie ist das Polytheismus, wie jeder Mythus polytheistisch ist. Aber als gegenwärtige starke Tendenz kann man es nicht ignorieren. Vielleicht hofft ein parlamentarischer Optimismus auch diese Bewegung zu relativieren und, wie im fascistischen Italien, alles über sich ergehend lassend, bis zur Wiederaufnahme der Diskussion warten zu können. Vielleicht auch die Diskussion [90] selbst zur Diskussion zu stellen, sofern nur eben diskutiert wird. Aber in der wiederaufgenommenen Diskussion dürfte er sich dann nicht damit begnügen, nur seine Gegenfrage "Parlamentarismus, was sonst?" zu wiederholen und geltend zu machen, es gebe für ihn vorläufig noch keinen Ersatz. Das wäre ein hilfloses Argument und nicht imstande, das Zeitalter der Diskussion zu erneuern.

Anmerkungen

1 Ein ganz typisches Beispiel ist die Definition des Parlamentarismus in dem Buch des Senators Prof. Gaetano Mosca, Teorica dei Governi e Governo Parlamentare, 2. Aufl., Mailand 1925 (1. Aufl. 1883), S. 147; er versteht darunter eine Regierung, in welcher die politische Überlegenheit (la preminenza politica) im Staate Elementen zusteht, welche direkt oder indirekt aus einer Volkswahl hervorgehen. Auch die beliebte Gleichstellung von Repräsentativ­verfassung und Parlamentarismus enthält dieselbe Verwechslung. [S. 6]
2 Ein kürzlich erschienenes, interessantes und witziges, trotz aller literarischen und gedanklichen Sprünge sehr beachtenswertes Buch, Wyndham Lewis, The art of being ruled, London (Chatto and Windus) 1926, erklärt diesen Übergang vom Intellektuellen zum Affektiven und Sensuellen dadurch, daß infolge der modernen Demokratie der männliche Typus zurückgedrängt wird und eine allgemeine Feminisierung eintritt. [S. 11]
3 Doch trifft gerade hier eine Feststellung zu, die Robert Michels im Vorwort zur 2. Auflage seiner "Soziologie des Parteiwesens" (S. XVIII) macht, "daß auf dem Gebiete sowohl der theoretischen, zumal aber dem der angewandten Massen­psychologie ... die deutsche Wissenschaft hinter der französischen, italienischen, amerikanischen und englischen um einige Dezennien an Arbeits­leistung, aber auch an Interesse zurücksteht." Dem wäre nur hinzuzufügen, daß ein Buch wie das von Robert Michels, mit seinem erstaunlichen Reichtum an Material und an Gedanken, doch wohl geeignet ist, ein Dezennium des Rückstandes zu kompensieren.
4 Die zur Demokratie gehörige politische Substanz kann wohl nicht im bloß Ökonomischen liegen. Aus der ökonomischen Gleichheit folgt noch keine politische Homogenität; wohl können - negativ - große ökonomische Ungleichheiten eine sonst bestehende politische Homogenität aufheben oder gefährden. Die weitere Ausführung dieser Thesen gehört in einen anderen Zusammenhang. [S. 14]
5 Insofern besteht ein "Pluralismus", und der soziale Pluralismus, in den nach der Prognose von M. J. Bonn, Die Krisis der europäischen Demokratie, 1925, die heutige, angebliche Menschheits­demokratie sich auflösen wird, ist in anderer, wirksamerer Form längst vorhanden und immer vorhanden gewesen. [S. 16]
6 Diese Unterscheidung hat ein sehr beachtenswerter Aufsatz von Werner Becker in der Zeitschrift "Schildgenossen", September 19-25, gut ausgeführt; die Arbeit beruht auf einem in meinem politischen Seminar, Sommersemester 1925, gehaltenen ausgezeichneten Referat. Der Aufsatz [18 | 19] von H. Hefele, "Hochland", November 1924, betont ebenfalls einen Gegensatz von Liberalismus und Demokratie. Doch halte ich sowohl Becker wie Hefele gegenüber an der Definition der Demokratie als einer Identität von Regierenden und Regierten fest.
7 Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, Stuttgart 1925. [S. 19]
8 Archiv für Sozialwissenschaften, August 1925. Bd. 54, S. 533. [S. 19]
9 Von deutschen Publikationen sind aus der Menge der Aufsätze und Broschüren zu nennen: die ideenreichen Schriften von M. J. Bonn, Die Auflösung des modernen Staates, Berlin 1921, und Die Krisis der europäischen Demokratie, München 1925; K. Beyerle, Parlamentarisches System - oder was sonst?, München 1921; Carl Landauer, Sozialismus und parlamentarisches System, Arch. f. Sozialwissenschaft, 1922, Bd. 48, Heft 3, Die Wege zur Eroberung des demokratischen Staates durch die Wirtschaftsleiter, in der Erinnerungsgabe für Max Weber, 1922, Bd. II, Die Ideologie des Wirtschaftsparlamentarismus, in der Festgabe für L. Brentano, 1925, Bd. I, S. 153ff.; R. Thoma, Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff, Erinnerungsgabe für Max Weber, 1922, Bd. II (dazu: Carl Schmitt, Arch. f. Sozialwissenschaft, 1924, Bd. 51, Heft 3), Zur Ideologie des Parlamentarismus und der Diktatur, Arch. f. Sozialw., 1924, Bd. 53, Heft 1; Heinz Marr, Klasse und Partei in der modernen Demokratie, Frankfurter gelehrte Reden und Abhandlungen, Heft 1, Frankfurt 1925 (dazu: E. Rosenbaum im Hamburgischen Wirtschaftsdienst vom 26. Febr. 1926); Karl Löwenstein, Minderheitsregierung in Großbritannien, München 1925; Hermann Port, Zweiparteiensystem und Zentrum, "Hochland", Juli 1925; W. Lambach, die Herrschaft der 500, Hamburg 1925; Ernst Müller- Meiningen, Parlamentarismus, Berlin 1926. - Über die Ansichten von Oswald Spengler der übersichtlich zusammenfassende Vortrag von Otto Koellreutter, Die Staatslehre Oswald Spenglers, Jena 1924. - Aus der umfangreichen Literatur zum "berufsständischen" Problem: Herrfahrdt, Das Problem der berufsständischen Vertretung, Berlin 1921; Edgar Tatarin-Tarnheyden, Die Berufsstände, Berlin 1922; derselbe: Kopfzahldemokratie, organische Demokratie und Oberhausproblem, in der Zeitschrift für Politik, Bd. 15, S. 97ff.; Heinz Brauweiler, Berufsstand und Staat, Berlin 1925; derselbe: Parlamentarismus und berufsständische Verfassungsreform, Preuß. Jahrbücher, Oktober 1925, und die oben erwähnte kritische Abhandlung von Carl Landauer. - Über die besonderen Schwierigkeiten des Parlamentarismus gegenüber den Problemen moderner Wirtschaft: Göppert, Staat und Wirtschaft, Tübingen 1924. [S. 29]
10 Darüber die ausgezeichnete Arbeit von Kathleen Murray über Taine und die englische Romantik, München und Leipzig 1924. [S. 31]
11 The Clarke Papers, edited by C. H. Firth, vol. II (Camden Society MDCCCXCIV) p. 257/58. [S. 36]
12 Sehr lehrreich über diese Dialektik der Demokratie: L. Stein, Die sozialistischen und kommunistischen Bewegungen, 1848, Anhang, S. 25/26. [S. 37]
13 Ch. Maurras, L'avenir de l'intelligence, 2. éd. 1905, p. 98. [S. 39]
14 Darüber Carl Schmitt, Die Kernfrage des Völkerbundes. Berlin 1926. [S. 40]
15 Politische Theologie; vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. München und Leipzig 1922.
16 Egon Zweig, Die Lehre vom pouvoir constituant, Tübingen 1909 passim.
17 Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung durch Verhältniswahl, in der Festgabe der Bonner juristischen Fakultät für Karl Bergbohm, Bonn 1919, S. 278; Die politische Gewalt im Verfassungsstaat und das Problem der Staatsform, Festgabe der Berliner juristischen Fakultät für Wilh. Kahl, Tübingen 1923, Seite 22. [S. 43]
18 Von charakteristischen Äußerungen seien hier erwähnt: Esmein, Élements de droit constitutionnel, 5. Aufl., 1909, S. 274: "Car le régime représentatif (darunter versteht er Parlamentarismus) est essentiellement un régime de debat et de libre discussion; ferner die 7. Auflage desselben Werkes, Esmein- Nézard, 1921, Bd. I, S. 448: alle Institutionen des heutigen parlamentarischen Verfassungsrechts erklärt er daraus, daß ein solches Regierungs­system "suppose la pleine liberté de décision et de discussion" der gesetzgebenden Versammlung; ferner H. Laski, The foundations of Sovereignty, New York 1921, S. 36: The fundamental hypothesis of government in a representative system is that it is government by discussion. Vgl. auch unten S. 35 Anm. dieser Abhandlung. [S. 43]
19 Guizot, Histoire des origines du gouvernement représentatif en Europe, Bruxelles 1851, t. II, p. 10/11. Das Buch ist aus Vorlesungen entstanden, die Guizot seit 1820 gehalten und oft umgearbeitet hat; es ist das Resultat dessen, was ein bedeutender Gelehrter, ein erfahrener Politiker und ein edler Mensch in den Jahren von 1814 bis 1848 beobachtet und gedacht hat; seine von angelsächsischem Geist erfüllte Theorie des Parlamen- [43 | 44] tarismus nennt Guizot in der Vorrede (datiert Mai 1851): "la foi et l'espérance qui ont rempli ma vie et qui ont été, jusqu'à ces derniers jours, la foi et l'espérance de notre temps." Die typische Bedeutung von Guizot ist bei Krabbe, Die moderne Staatsidee, Haag 1919,-S. 178, gut erkannt. Wegen ihrer erschöpfenden Zusammen­fassung sei die im Text erwähnte Äußerung Guizots in extenso zitiert: "C'est de plus le caractère du système qui n'admet nulle part la légitimité du pouvoir absolu d'obliger tous les citoyens à chercher sans cesse, et dans chaque occasion, la vérité, la raison, la justice, qui doivent règler le pouvoir de fait. C'est ce que fait le système représentatif: 1° par la discussion qui oblige ies pouvoirs à chercher en commun la vérité; 2° par la publicité qui met les pouvoirs occupés de cette recherche sous les yeux des citoyens; 3° par la liberté de la presse qui provoque les citoyens eux-mêmes à chercher la vérité et à la dire au pouvoir." - Repräsentation bedeutet in dem Wort "Repräsentativ­system" die Vertretung des (vernünftigen) Volkes im Parlament. Bezeichnend für die Verwirrung des 19. Jahrhunderts ist die Gleichsetzung von Repräsentativ­system und Parlamentarismus. Der Begriff der Repräsentation hat eine tiefe, noch keineswegs allgemein bewußt gewordene Problematik. Für das Interesse der vorliegenden Abhandlung genügt es, hier nur von Parlamentarismus zu sprechen und die spezifische Besonderheit des echten Begriffes der Repräsentation kurz anzudeuten: sie gehört wesentlich in die Sphäre der Publizität (zum Unterschied von Stellvertretung, Auftrag, Mandat usw., die ursprünglich privat­rechtlicher Natur sind) und setzt sowohl bei dem Repräsentierten wie bei dem Repräsentanten wie auch bei demjenigen, vor dem repräsentiert wird, eine personale Würde voraus (zum Unterschied von Interessen­vertretung, Geschäfts­führung usw.). So wird, um ein ganz klares, typisches Beispiel zu geben, im 18. Jahrhundert der Fürst durch seinen Botschafter (der adelig sein muß) vor einem Fürsten repräsentiert, während die ökonomischen und andern Geschäfte von einem "Agenten" wahrgenommen werden. In dem Kampf des Parlaments gegen die absolute Monarchie trat das Parlament als Repräsentant des (als umfassende Einheit vorgestellten) Volkes auf. Wo das Volk zum Repräsentierten wurde, konnte der König seine Würde nur als Repräsentant des Volkes wahren (wie in der französischen Verfassung von 1791). Wo die absolute Monarchie sich behauptete, mußte sie die Möglichkeit oder die Zulässigkeit einer Repräsentation des Volkes bestreiten und suchte daher das Parlament zu einer ständischen Interessen­vertretung zu machen (so in Deutschland von 1815-1848). Wenn meistens ein "freies", von imperativen Mandaten der Wähler unabhängiges Parlament im besondern Sinne als "repräsentative" Versammlung bezeichnet wird, so erklärt sich das aus der Betonung einer praktisch wichtigen Einzelheit. In Wahrheit ist das Parlament als Repräsentant des ganzen Volkes deshalb von den Wählern nicht abhängig, weil diese nicht das ganze Volk, nicht die Nation sind. Erst all- [44 | 45] mählich, als man den Begriff der Person nicht mehr vorstellen konnte und sachlich wurde, also im Laufe des 19. Jahrhunderts, verwechselte man die Summe der jeweilig wählenden oder abstimmenden Bürger (oder ihre Mehrheit) mit der überragenden Gesamtperson Volk oder Nation und verlor den Sinn für eine Repräsentation des Volkes wie für Repräsentation überhaupt. Schon in dem Kampf um die Repräsentation, der sich in Deutschland von 1815-1848 abspielt, ist die Verwirrung unbeschreiblich und es läßt sich kaum erkennen, ob das Parlament das Volk vor dem König repräsentieren soll (also zwei Repräsentierte, König und Volk, innerhalb des Staates bestehen) oder ob das Parlament neben dem König Repräsentant der Nation ist (also wie in Frankreich nach der Verfassung von 1791 zwei Repräsentanten vorhanden sind). Die geschichtlichen Darstellungen sowohl der französischen Nationalversammlung von 1789 wie des deutschen Kampfes um eine "Repräsentativ­verfassung" leiden an dem Mißverständnis eines so wesentlichen Begriffes wie Repräsentation. Das gilt auch für das im übrigen sehr wertvolle und dankenswerte Buch von Karl Löwenstein, Volk und Parlament nach der Staatstheorie der französischen Nationalversammlung von 1789. München 1922. Über den Begriff der Repräsentation in der deutschen Literatur von 1815-1848 die Bonner Dissertation von Emil Gerber, 1926.
20 Monographien 1860, I, S. 5. [S. 45]
21 Die moderne Demokratie, Jena 1913, Neudruck 1921; die parlamentarische Kabinettsregierung, Stuttgart 1919, und der Aufsatz "Gewaltentrennung, Gewaltenteilung und gemischte Staatsform", Vierteljahrsschrift für soziale und Wirtschaftsgeschichte XIII, 1916, S. 562. [S. 47]
22 Kritik der öffentlichen Meinung, Berlin 1922, S. 100. [S. 47]
23 Näheres in meinem Buch über die Diktatur, München und Leipzig 1921, S. 14ff.; ferner Meinecke, Die Idee der Staatsräson, München und Berlin 1924, dazu meine Besprechung Arch. f. Sozialw. Bd. 56, Heft 1. [S. 47]
24 So in dem Discours sur les conventions nationales (1. April 1791), ferner in der Rede über Monarchie und Republik (ebenfalls I791, Oeuvres XI). Der Glaube an die Buchdruckerkunst gehört zu den charakteristischen Zeichen der revolutionären Aufklärung. Ein Aufsatz aus dem Jahre 1 der Republik (zitiert nach dem Citateur Républicain, Paris 1834, S. 97) zählt die Wirkungen auf: jede Unfreiheit, jedes Laster, jedes Hindernis allgemeinen Glückes wird schwinden, die Kriege hören auf, an ihre Stelle tritt Reichtum und Überfluß und Tugend - tels seront les bienfaits de l'imprimerie. [S. 49]
25 Vgl. Erich Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie, Tübingen 1921, S. 60/61. [S. 49]
26 In der Schrift On liberty of the Press and Public Discussion, 1821. [S. 49]
27 Er spricht von der Balancierung der Interessen in der volonté générale, vgl. Contrat social II, Kap. 9, Abs. 4; II 11 Note; IV 4 Abs. 25; IV 5; besonders I 8 Abs. 2; II 6 Abs. 10; III 8 Abs. 10. [S. 51]
28 Vgl. S. 149 meines Buches über die Diktatur. [S. 52]
29 S. 115/116 der Edinburger Ausgabe von 1579. [S. 53]
30 De jure belli ac pacis, 1. I c. III § 6 (benutzt ist die Amsterdamer Ausgabe von 1631). Auch Grotius braucht den Vergleich mit der Mathematik, um seine ablehnende Bewertung der partikulären Tatsache zu begründen. [S. 53]
31 Für die heute noch ganz unmittelbar praktische Aktualität Lockes sind die Ausführungen bei Erich Kaufmann, Untersuchungsausschuß und Staatsgerichtshof, Berlin 1920, S. 25f., ein glänzendes Beispiel, das auch wegen seiner Bedeutung für den materiellen Gesetzesbegriff hervorgehoben werden muß. [S. 53]
32 John Neville Figgis, The divine right of Kings, 2. Auflage, Cambridge 1914. [S. 53]
33 Dieser Ausspruch von John Marshall ist als Motto von Kapitel 16 [53 | 54] des Buches von James Beck über die amerikanische Verfassung zitiert. Deutsche Ausgabe von Alfred Friedmann, Berlin 1926.
34 Politische Theologie, S. 4ff. [S. 54]
35 Leviathan, Chap. XXVI, p. 137 der englischen Ausgabe von 1651. [S. 54]
36 Dissertation on parties, letter X. [S. 55]
37 Darüber die außerordentlich interessanten Ausführungen von Joseph Barthélémy, Le role du pouvoir exécutif dans les républiques modernes, Paris 1906, p. 489. Die oben zitierte Äußerung von Condorcet findet sich in seinem Rapport sur le projet girondin, Archives parlementaires, LVIII, p. 583 (bei Barthélémy zitiert). [S. 55]
38 Titre VII Section II Art. 4 (Duguit-Monnier, p. 52): zum Unterschied von Gesetzen sind die Kennzeichen der Dekrete: application locale ou particulière et la nécessité de leur renouvellement à une époque determinée. Die Verfassung vom 21. 6. 1793 Artikel 54 u. 55 bestimmt den Gesetzesbegriff nach den geregelten Materien. [S. 55]
39 Enzyklopädie § 544. [S. 56]
40 Irrtum und Rechtsgeschäft, S. 201ff. [S. 56]
41 Hamilton in Nr. LXX vom 18. 3. 1788. Auch Montesquieu, Esprit des Lois, XI, 6 ist ja der Meinung, daß die Exekutive in der Hand eines Einzigen sein müsse, weil es sich bei ihr um sofortige Aktion handle, die Legislation dagegen werde, wie er sich vorsichtig ausdrückt, "oft besser" durch mehrere als durch einen gehandhabt. Über die Volksvertretung macht M., die charakteristische Bemerkung, es sei der große Vorteil der Vertreter (Repräsentanten), "qu'ils sont capables de discuter les affaires. Le peuple n'y est point du tout propre; ce qui forme un des grands inconvénients de la démocratie." Die Unterscheidung von Legislation als Beratschlagung und Gedanke, Exekutive als Aktion kehrt auch bei Siéyès wieder (vgl. Politische Schriften, Deutsche Ausgabe. 1796, II, S. 384). [S. 57]
42 Daß der Deismus Gott als eine außerweltliche Instanz beibehält, ist für die Balancen­vorstellungen von großer Bedeutung. Es ist ein Unterschied, ob ein Dritter die Balance hält oder ob die Balancierung aus den Gegen­gewichten heraus sich von selbst ergibt. Typisch für die erste Vorstellung (und wichtig für die Balancen­theorie von Bolingbroke) ist der Ausspruch von Swift aus dem Jahre 1701: Die "balance of power" supposes three things: First, the part which is held, together with the band, that holds it; and then two scales, with whatever is weighted therein. (Ich verdanke den Hinweis auf dies Zitat Herrn Dr. Eduard Rosenbaum; vgl. Weltwirtschaftliches Archiv, 18. B. 1. Oktober 1922, S. 423.) [S. 57]
43 Oeuvres XIII, p. 18. [S. 57]
44 Rechtsphilosophie §§ 301, 314, 315, das weiter im Text folgende Zitat Zusatz zu § 315 und zu § 316 der Rechtsphilosophie. [S. 59]
45 Mohl, Enzyklopädie der Staatswissenschaften, 2. Aufl. Tübingen 1872, S. 655. [S. 59]
46 Bluntschli, Artikel "Politische Parteien" in seinem Staatswörterbuch. Über Lorenz von Stein vgl. meine Politische Theologie, S. 53. Diese für den deutschen Liberalismus charakteristische Erklärung der Parteien noch bei Fr. Meinecke, Idee der Staatsräson, S. 525. [S. 60]
47 Allgemeines Staatsrecht, I. Bd. München 1868, S. 488. - Eine interessante Verbindung guten alten Verständnisses für die Prinzipien des Parlamentarismus und moderner Mißverständnisse ist der Aufsatz von Adolf Neumann-Hofer, Die Wirksamkeit der Kommissionen in den Parlamenten, Zeitschr. f. Politik, Bd. 4 (1911), S. 51ff. Er geht davon aus, daß in der öffentlichen Vollversammlung erfahrungsgemäß nicht mehr diskutiert wird, glaubt aber, um die Diskussion zu retten, die Kommissionen zum "Disputierklub" machen zu können (S. 64/65). Über die darin liegende Verkennung des Begriffes der Diskussion vgl. die Vorbemerkung zu diesem Buch S. 10. [S. 60]
48 Eugene Forcade, Études historiques, Paris 1853, in der Besprechung von Lamartines Geschichte der Revolution von 1848. Lamartine selbst ist ebenfalls ein Beispiel dieses Glaubens an die Diskussion, die er der Macht und Gewalt gegenüberstellt. Sowohl seine Schrift über eine vernünftige Regierung (aus dem Jahre 1831) wie die Abhandlung Le Passé, le Présent, l'Avenir de la République von 1848 sind ganz davon erfüllt. Er meint sogar, daß die Zeitung morgens wie die aufgehende Sonne erscheine und das Licht verbreite! Höchst charakteristisch und als Symptom von größter Bedeutung ist vor allem Victor Hugos hymnische Schilderung der "Tribüne" in seiner berühmten Schrift "Napoléon le Petit". Der Glaube an die Diskussion kennzeichnet diese Epoche. Daher kann Hauriou, Précis de droit constitutionnel (Paris 1923), die Zeit des Parlamentarismus als die Epoche der Diskussion (l'âge de la discussion, p. 198, 201 und an anderen Stellen) bezeichnen, und ein unbeirrter Liberaler wie Yves Guyot stellt schon in der Überschrift seines Buches: Politique Parlamentaire - Politique Atavique (Paris 1924) die auf Diskussion beruhende parlamentarische Regierung (die für ihn selbstverständlich ein gouverne- [61|62] ment de discussion ist) dem "Atavismus" jeder nicht diskutierenden Politik entgegen. So wird Parlamentarismus identisch mit Freiheit und Kultur überhaupt und L. Gumplowicz, Soziologie und Politik, Leipzig 1892, S. 116, schreibt in voller Begriffsauflösung: "Der Charakter und das Merkmal asiatischer Kultur ist Despotismus, europäischer parlamentarisches Regime."
49 "Die Philosophie spielte bei diesem Bündnis im 19. Jahrhundert - wie einst bei ihrem Bündnis mit der Kirche - nur eine bescheidene Rolle; gleichwohl wird sie nicht so bald auf dieses Bündnis verzichten können." H. Pichler, Zur Philosophie der Geschichte, Tübingen 1922, S. 16. [S. 64]
50 Das ist keine bloße Redensart. Wenn in einer Gesellschaft ein soziales Nichts möglich ist, so ist nämlich dadurch bewiesen, daß keine soziale Ordnung besteht. Es kann keine Ordnung geben, die ein solches Vakuum enthielte. [S. 74]
51 Zitiert nach der 4. Auflage, Paris 1919; erste Publikation 1906 im "Mouvement socialiste". [S. 78]
52 In Deutschland ist Sorel auch heute noch (1926) kaum bekannt, und während in den letzten Jahren zahllose Schriften ins Deutsche übersetzt worden sind, hat man Sorel, vielleicht des "ewigen Gespräches" wegen, ignoriert. Dabei hat Wyndham Lewis, The art of being ruled, London 1926, durchaus recht, wenn er (S. 128) sagt: "George Sorel is the key to all contemporary political thought" (Anm. zur 2. Auflage). [S. 78]
53 Politische Theologie, S. 45. [S. 79]
54 Bakunin, Oeuvres t. IV, Paris 1910, p. 428 (in der Aus­einander­setzung mit Marx aus dem Jahre 1872), II, p. 34, 42 (das Referendum als neue Lüge). [S. 79]
55 Fritz Brupbacher, Marx und Bakunin, ein Beitrag zur Geschichte der internationalen Arbeiterassoziation (ohne Jahreszahl), S. 74ff. [S. 80]
56 "Llegua el dia de las negaciones radicales o de las afirmaciones soberanas"; Obras IV p. 155 (in dem Essay über Katholizismus, Liberalismus und Sozialismus). [S. 82]
57 Anm. zur 2. Auflage: Ich muß hinzufügen: die beiden eigentlichen Gegner innerhalb des west­europäischen Kulturkreises. Proudhon stand noch ganz in der überlieferten, moralischen Tradition; sein Ideal war die streng auf der patria potestas beruhende, monogamische Familie, die dem konsequenten Anarchismus widerspricht; vgl. darüber meine Politische Theologie, 1922, S. 55. Erst mit den Russen, insbesondere mit Bakunin, erscheint der eigentliche Feind aller überlieferten Begriffe west­europäischer Kultur. Proudhon und G. Sorel sind - darin gebe ich Wyndham Lewis (a.a.O. S. 360) recht - beide noch "Römer", keine Anarchisten wie die Russen. J. J. Rousseau, den Wyndham Lewis ebenfalls als echten Anarchisten bezeichnet, scheint mir kein klarer Fall, weil er Romantiker und seine Beziehung zu Fragen wie Staat und Familie deshalb nur als Fall des romantischen Okkasionalismus zu beurteilen ist.
58 Materiaux d'une théorie du prolétariat, Paris 1919, p. 53. [S. 85]
59 Daraus, daß er sich auf Bergson stützt, wird man keinen Einwand gegen Sorel entnehmen können. Er legt eine Philosophie konkreten Lebens seinen politischen Theorien des Antipolitischen, d. h. des Anti­intellektuellen, zugrunde, und eine solche Philosophie zeigt, wie der Hegelianismus, im konkreten Leben verschiedene Anwendungs­möglichkeiten. In Frankreich hat Bergsons Philosophie gleichzeitig einer Rückkehr zur konservativen Tradition, zum Katholizismus und einem radikalen, atheistischen Anarchismus gedient. Das ist keineswegs ein Zeichen innerer Falschheit. In dem Gegensatz der Rechts- und Links-Hegelianer hat dies Phänomen eine interessante Analogie. Man könnte sagen, daß eine Philosophie selber aktuelles Leben hat, wenn sie lebendige Gegensätze belebt und die kämpfenden Gegner als lebendige Feinde gruppiert. Unter diesem Gesichtspunkt ist es beachtenswert, daß nur Gegner des Parlamentarismus aus Bergsons Philosophie diese Belebung geschöpft haben. Der deutsche Liberalismus der Mitte des 19. Jahrhunderts [85|86] hatte, im Gegensatz dazu, den Begriff des Lebens gerade für das parlamentarisch-konstitutionelle System verwertet und im Parlament den lebendigen Träger der Gegensätze des sozialen Lebens gesehen; vgl. oben S. 59.
60 Äußerung Trotzkis über die Freimaurerei auf dem 4. Weltkongreß der dritten Internationale (1. Dez. 1922). [S. 88]